Jean Liedloff im Interview mit Dr. Epstein von „Psychology Today“, im September 2000

Vorbemerkung: Der Text ist, wie bei den Bali-Videos, sinngemäß übersetzt, nicht wörtlich. Die meisten Höflichkeitsfloskeln habe ich ausgespart, ebenso Dr. Epsteins gelegentliche Bemühungen, gegen Jeans Redefluss zu Wort zu kommen, wobei er aber meist nur ein paar Silben weit kommt. Beim zweiten Interview hat er wohl dazu gelernt und präsentiert seinen eigenen Monolog gleich vorab.

Nebensächliche Einwürfe und sich wiederholende Einleitungen, wie sie im amerikanischen Radio üblich sind, habe ich weggelassen.

Es sind einige Eltern zu Gast, die Jeans Ratschlägen folgen, wegen der Übersichtlichkeit abgekürzt mit zwei Buchstaben: Theresa (TH), Scott (SC) und Ingrid (IN).


Dr. Epstein (E): Hallo, Guten Tag, hier ist „Psychology Today“. Heute reden wir über das Thema „Kinder“. Als wiederholter Höhepunkt sprechen wir mit Jean Liedloff, der Autorin des „Continuum Concept“. Wir haben ein paar Eltern zu Gast, die ihren Erziehungsrichtlinien folgen, die ein bisschen seltsam sind, verglichen mit dem, was die meisten von uns tun. Ich teile Euch etwas mit über meine eigenen Elternerfahrungen, speziell zum Thema Meilensteine. Eines der großartigen Dinge am Elternsein ist, wenn Dein Kind einen Meilenstein erreicht. Und das ist eine ganz wundervolle Sache. Manchmal ist es unheimlich, manchmal verstörend, aber trotzdem ist es immer wundervoll. Ich gebe Euch ein paar Beispiele. Ich erinnere mich, als mein Sohn Julian in der Badewanne saß, und das ist eine der verstörenderen Episoden, fing er plötzlich an zu weinen. Ich fragte ihn, was los sei, und er antwortete „Ich habe gerade verstanden“ – ich weiß nicht mehr genau, ob er das Wort „verstanden“ benutzt hat – „Ich habe gerade verstanden, dass Du sterben wirst. Und ich werde sterben. Und alle werden sterben.“ Und er weinte. Natürlich war das verstörend, aber auch eine wundervolle Sache, zu sehen, wie ein so kleines Kind ganz allein so etwas äußerst Wichtiges herausfindet. Ich denke, wir hatten schon ab und zu mit ihm darüber gesprochen, was der Tod ist, einer unserer Vögel war gestorben. Aber dies hier war etwas anderes. Julian hatte gemerkt, dass es hier um etwas sehr Wichtiges geht. Er hatte sogar die Permanenz des Todes und Sterbens begriffen. Das war ein erstaunlicher Moment. Einmal gingen wir ins Kino, mit mehreren kleinen Kindern, und Julian war damals unter vier Jahre alt, vielleicht zwei oder so. Im Film passierte etwas Lustiges, und plötzlich lachte Julian. Es war das erste Mal, wo ich ihn über Humor lachen sah, über einen Witz, anstatt beim Kitzeln oder wenn etwas Albernes passierte. Das erfordert schon ein bestimmtes Wissen. Vielleicht lachte er auch nur, weil Menschen um ihn herum lachten, aber das schien mir nicht so; mir schien, er hatte einen großen Entwicklungsschritt gemacht. Und jetzt kommt die aktuelle Geschichte, wegen der ich auf das Thema gekommen bin. Gestern hat mein Sohn Jordan einen großen Schritt getan. Seit Monaten sieht er sich immer wieder dasselbe SESAMSTRASSE-Video an, immer wieder und wieder. Er liebt Elmo (eine Figur aus der SESAMSTRASSE, Anm. d. Üb.), die Episode „Elmos Welt“. Er spricht noch nicht viel, aber er zeigt auf den Fernseher und sagt „Elmo, Elmo!“ und er versteht, was vor sich geht. Das Band läuft also, und die Elmo-Episode beginnt, mit dem Erkennungslied. Und auf einmal singt Jordan „Elmos Welt!“ und dann noch mal, ein paar Minuten später „Elmos Welt!“ Das war’s, er hat es nicht noch einmal getan. Ganz allein hat er zweimal gesungen. Wir haben ihn nie vorher singen hören. Natürlich waren wir ganz aufgeregt und sagten „Oh, wie wundervoll, Schatz, Du hast gesungen!“ und wir versuchten, ihn wieder dazu zu bringen, aber er machte es nicht. Das war ein weiterer Meilenstein, und es ist eine der größten Freuden von Eltern, Kindern zuzuschauen, wie sie diese Meilensteine erreichen. Das ist so erstaunlich. Wir hatten Jordan schon oft vorgesungen; ich singe meinen Kindern gern vor, ich singe auch im Auto, aber er hatte nie vorher versucht zu singen. Ich hatte ihn oft ermutigt, mit mir mitzusingen, und ganz plötzlich, von ganz alleine, auf mysteriöse Weise, geschieht etwas Neues. Das ist nicht nur schön für die Eltern, es ist auch eines der großartigen, geheimnisvollen Dinge der menschlichen Entwicklung. Wir tun Dinge von selbst, die uns nicht detailliert beigebracht wurden. Wie ich es auch in meinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen schreibe, Verhalten ist generativ, wir generieren Verhalten und neue Ideen, erzeugen es selbst. Neues Verhalten scheint aus dem Nichts zu entstehen, auch wenn es nicht wirklich aus dem Nichts kommt. Kinder sind toll, ich habe selbst vier Kinder, ich liebe Kinder. Wenn Ihr darüber nachdenkt, Kinder zu haben, zögert nicht, bekommt sie, und macht Euch die Sorgen anschließend (lacht). Ihr könnt Euch über das College später Sorgen machen. Kinder sind so großartig. Als nächstes treffen wir Jean Liedloff. Sie war nie verheiratet, hat keine Kinder. Ich weiß nicht, ob sie Nichten und Neffen hat. Sie hält auch gar nicht hinterm Berg damit, dass ihre Erkenntnisse nicht aus ihrer Erfahrung als Elternteil stammen. Sie verbrachte etwa zwei Jahre mit einem primitiven Stamm in Südamerika. Sie unternahm mehrere Reisen dorthin, lebte mit den Indianern und machte eine Art anthropologische Studie. Auf Grund ihrer Erfahrungen schrieb sie ihr Buch, das inzwischen zu einer Art Kult geführt hat. Eltern in der ganzen Welt, besonders in den USA und Kanada, folgen ihren Anregungen. Und Ihr werdet sehen, das ist ungewöhnliches Zeug. Zufällig sah ich neulich auf 20/20 (amerikanisches Fernsehmagazin, Anm. d. Üb.) etwas über eine Methode namens „Attachment Parenting“ (etwa: „Anhäng-Beelterung“), basierend auf Büchern von Dr. William Sears, ein kalifornischer Kinderarzt. Das sind sehr ähnliche Methoden zu dem, was Jean Liedloff empfiehlt. Wir werden die zweite Stunde unserer Show mit Jean und einigen Eltern verbringen. Das ist wirklich seltsam, ich gebe nur ein kleines Beispiel: Es gehört dazu, mit den Kindern gemeinsam zu schlafen, auch wenn sie älter werden, und auch, die Kinder später noch zu säugen, wenn sie keine Säuglinge mehr sind, sondern schon „Mami“ sagen können oder „Mami, ich hätte gern was zu trinken“. Was sind die Fürs und Widers dieser Methoden, sind sie gut oder schlecht? Vielleicht ist es nicht so gut, die Kinder gleich von der Brust zu entwöhnen, manchmal schon gleich nach der Geburt, oder sie sehr früh in ihr eigenes Zimmer zu schicken. Die Methoden, die JL vorschlägt, sind faszinierend. Viele ihrer Ideen finde ich wundervoll, bei anderen bin ich nicht sicher, besonders weil ich nicht weiß, ob da relevante wissenschaftliche Daten vorliegen, aber das werden wir später von Jean hören und von drei Familien, die wir dabei haben werden, zwei aus Kanada, eine aus den USA; wir werden hören, was die Erfahrungen dieser Eltern sind, was ihre Klagen sind, besonders über die „traditionellen“ amerikanischen Methoden, wie etwa die Kinder nach der Geburt in einen getrennten Raum zu bringen, sie in eine Krippe zu legen, ein Babyphon daneben zu legen, damit man das Kind weinen hört und hoch rennen kann, um die Windeln zu wechseln oder so. Überhaupt, die Kinder sehr früh von den Eltern zu trennen, im Gegensatz zu dem, was Jean empfiehlt.

(Es folgt ein Abschnitt, der nichts mit Jeans Arbeit zu tun hat.)

E: Ich habe jetzt Jean Liedloff zu Gast. Ich hatte sie schon mal hier; sie ist eine sehr sprachgewandte, intelligente Frau, eine sehr fähige Autorin. Ihr werdet ein paar Dinge hören, die Euch vielleicht seltsam erscheinen, aber ich habe Jean eingeladen, weil ich denke, dass ihr Buch höchst interessant ist. Ich denke, da sind einige Ansätze drin, denen wir sehr viel Beachtung schenken sollten. Das einzige, was mich etwas zurückhaltend macht, sind belegbare Daten. Haben wir Daten darüber, was die Ergebnisse dieser speziellen Techniken sind? Willkommen, Jean Liedloff, zum zweiten Mal in dieser Sendung. Gut, Sie wieder dabei zu haben. Beim letzten Mal haben Sie mich in vieler Hinsicht zum Nachdenken angeregt.

J: Auf manche dieser Hinsichten sollten wir mal näher eingehen, etwa, die Leute, die den Anregungen folgen, einen „Kult“ zu nennen, das ist wirklich etwas überzogen. (Im Amerikanischen bedeutet das Wort „cult“ sowohl „Kult“ – etwa im Sinne der Rocky Horror Picture Show oder Elvis oder Jim Morrison – als auch „Sekte“, deshalb reagiert Jean wohl etwas empfindlich, Anm. d. Üb.)

E: Hm, vielleicht ist es überzogen, vielleicht nicht. Wir werden einige dieser Leute ja in der Show haben, etwa Theresa Pitman, hallo Theresa?

TH: Ja.

E: Sie ist da toll, eine Muter von vier Kindern in Toronto, Kanada. Wir haben Scott Noelle

SC: Hallo, ich bin da.

E: Scott hat eine dreijährige Tochter und ist aus Portland, Oregon. Und Ingrid Bauer, hallo?

IN: Hallo.

E: Ingrid ist aus Vancouver, Kanada und hat zwei Söhne, 15 und 3. Ich habe übrigens vier Kinder, wie Theresa. Ich habe das Buch von Jean direkt vor mir, ich habe es mehrmals gelesen, es ist ein faszinierendes Buch. Gehen wir gleich rein ins Thema. Jean, was ist das Continuum Concept?

J: Wahrscheinlich habe ich das als erste formuliert, aber ich denke, das beweist sich mehr oder weniger von selbst. Das Kontinuum, das ich meine, bezieht sich auf die menschliche Evolution. Ich rede davon, kontinuierlich fortzusetzen, wie unsere Spezies des Homo Sapiens sich entwickelt hat über hunderttausende von Jahren, nicht nur über ein paar Generationen, ein Kontinuum, das unseren Charakter als Spezies ausmacht. Das ist nicht so recht wissenschaftlich anerkannt, aber ich denke, das kann ganz einfach vernünftig und logisch erklärt werden. Unsere Evolution ist eine Anpassung an die Umstände, in welche die Ahnen in unserer Evolution sich befanden. Als wir aus den Schlammlöchern heraus krabbelten, entwickelten wir aus den Kiemen Lungen, wir passten uns an die Luft an, passten uns dem Licht an und der Temperatur, der wir ausgesetzt waren, an gelegentlichen Regen, die ganzen Umweltbedingungen. Was aber entscheidend ist, ist dass wir auch eine Anpassung an das zwischenmenschliche Leben vorgenommen haben, über hunderttausende Jahre der Evolution. Schon bevor wir Menschen waren, sogar bevor wir Affen waren, vielleicht sogar bevor wir Säugetiere waren, kamen wir aus der Gebärmutter und hielten uns am Körper unserer Mutter fest. Unsere Mütter hatten Haare überall.

E: Wir wurden also nicht in irgendein Krankenzimmer gesteckt.

J: Nein, ich denke, da gab es noch nicht so viele Krankenzimmer. Wir hielten uns am Fell unserer Mutter fest. Und erstaunlicherweise, auch nachdem wir uns aufgerichtet und das Fell verloren haben, können unsere Babies immer noch ihr eigenes Gewicht halten, an irgendeinem Fell oder Haar oder sogar an einem Finger. Da ist es nicht weit hergeholt zu sagen, dass Babies das wohl immer getan haben, wie viele Primaten es ja auch heute noch tun. Als wir uns dann aufrichteten, kam der Mutter die Aufgabe zu, Baby und Mutter zusammen zu halten. Wir wurden Jäger und Sammler. Seitdem haben wir uns nicht weiter entwickelt, seit Jäger und Sammler. Die Entwicklung irgendeiner Art von Landwirtschaft ist vielleicht 8.000 bis 10.000 Jahre her. In der Evolution ist das eine Zeitspanne, die man getrost vernachlässigen kann. Das Tier, das wir heute noch sind, ist also Jäger und Sammler. Ich setze voraus, dass wir angeborene Erwartungen haben. Das CC ist die Grundidee, dass wir angepasst sind an etwas und etwas erwarten, was aus der Kontinuität unserer Evolution stammt. Ein Baby erwartet, gehalten zu werden. Es erwartet die Art von Temperatur, Geruch, Oberflächenstruktur wie der Körper seiner Mutter. Wenn es das nicht bekommt, sondern gemessen, gewogen wird, Dinge in die Nase und in den Hals gesteckt kriegt und dann in eine Kiste gepackt wird – wie es bei uns normalerweise passiert – außer, jemand macht erst sein Horoskop und packt es dann in die Kiste – in leblosen Stoff eingewickelt wird – was tut das Baby dann? Es weint. Es weint, weil es ein Signal hat, das in all diesen Generationen entwickelt wurde, welches zeigt, dass etwas nicht stimmt. Du brauchst kein Wörterbuch, um das zu verstehen, wenn Du ein Mensch bist. Die Evolution hat das Verständnis eingebaut, nicht nur in die Mutter, sondern in alle. Wenn das Baby „wäh!“ sagt, ist ganz klar, was es sagen will.

E: Diese Ideen haben Sie bekommen, als Sie die Yequana-Indiander beobachteten. Was haben Sie dort gesehen?

J: Die leben quasi noch in der Steinzeit. Vielleicht wissen sie nicht so viel, aber sie sind genau so intelligent und humorvoll wie wir. Auf alle Fälle sind sie um einiges glücklicher als wir. Das nervt doch! Was wissen die, was wir nicht wissen? Wir wissen so viele Dinge, Psychologen entwickeln Techniken, die ganze Technologie und Physik, trotzdem sind wir so viel weniger glücklich als die!

E: Gerade ist ein Buch erschienen namens „Das amerikanische Paradoxon“ von Dr. David Myers, mit der Aussage, dass wir alles haben und derart unglücklich sind.

J: Ich rede mit ihm und löse vielleicht sein Problem (lacht).

E: Er schreibt über dieses paradoxe Problem, beschreibt aber nicht die Lösung. Vielleicht sollten Sie sich mit ihm treffen.

J: Sie haben vorher etwas erwähnt – ich habe einige Jahre in England gewohnt, bevor ich hier nach Kalifornien zog. Jemand teilte mir mit, es gäbe da einen Dr. Sears in den USA, der sich offensichtlich bei meinen Ideen bedient hat. Er schrieb ein Buch „Kreative Elternschaft – das neue Kontinuum-Konzept zur Kindererziehung“. Im Laufe des Buches beschreibt er recht präzise meine Ansätze und Ideen, wie man Babies oder Kinder behandeln sollte, ohne jeden Verweis darauf, dass es das von mir hätte, oder dass ich existiere. Irgendwann hörte er auf, es das Kontinuum-Konzept zu nennen – vielleicht hat ein Rechtsanwalt da eingegriffen oder irgendjemand – und nannte es fortan „Attachment Parenting“, also „Anhäng-Beelterung“, aber es ist genau dasselbe, er hat nur die Aufschrift geändert. Sagt das genug über Dr. Sears?

E: Ich selbst finde das höchst unakzeptabel. Was war das Datum auf seinem Buch?

J: Irgendwann in den Achtziger Jahren. Mein Buch kam in England 1975 heraus, und hier in den USA 1977. Irgendwann, als ich in England war.

E: Es gibt da dieses gewisse Elitebewusstsein über Leute, die all diese eindrucksvollen Titel besitzen. Vielleicht wollte er Sie nicht zitieren, weil Sie nicht Dr. Prof. sind.

J: Ich bin nichts weiter als ein KD, ein „Kindergarten Dropout“ (Jemand, der schon aus dem Kindergarten geflogen ist – cleveres Wortspiel mit dem amerikanischen Begriff „High School Dropout“, welcher jemanden bezeichnet, der die High School nicht geschafft hat; und mit der Abkürzung „MD“, die für „Medical Doctor“ steht, also Dr. med.; Anm. d. Üb.). Meine Erfahrung ist authentisch, und meine Beobachtungen sind, was sie sind; ich behaupte nicht, einen wissenschaftlichen Abschluss zu haben. Trotzdem muss ich sagen, ich bin eine ehrbare Person ohne Titel, und Dr. Sears ist eine nicht ehrbare Person, mit Titel.

E: So etwas kann passieren. Als ich seine Arbeiten durchging, war ich zuerst erstaunt über die Ähnlichkeiten seiner Schriften zu Ihren, und dann darüber, dass er all dies anscheinend als seine eigenen Ideen verkaufte. Wir haben in den letzten Wochen versucht, ihn zu erreichen und ihn in die Show einzuladen. Ich habe ganz bestimmt vor, ihn direkt damit zu konfrontieren. Ich finde das beschämend; ich finde, er sollte wenigstens über Ihre Arbeit sprechen.

J: Er behauptet ja, das sei alles sein Eigenes. Wie soll er sich da rausreden? Keine Ahnung. Aber das ist wirklich der negative Teil. Reden wir vom positiven, erfreulichen, nützlichen Teil von all dem.

SC: Ich kann Jean kaum hören.

E: Ich kann alle hören, also können alle am Radio Euch alle hören, und das ist das Wichtigste.

SC: Ich denke, es war eine gute Idee von Sears, den Namen zu ändern in AB („Anhäng-Beelterung“ Attachment Paenting). Viele Menschen sind zum CC gekommen durch das Buch und die Arbeit von Sears. Ich sehe das CC mehr als die „reine“ Basisarbeit, und AB als die popularisierte, amerikanisierte Version des CC. Aber es gibt definitiv einige Unterschiede, und jeder der sich für AB interessiert, würde auch vom CC profitieren.

E: Wir machen eine kurze Pause und reden dann mit den Eltern, um herauszufinden, was sie mit ihren Kindern genau machen und welche Wirkung es offensichtlich auf die Kinder hat.

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(Nochmalige Vorstellung der Eltern)

E: Theresa Pitman, Du hast vier Kinder, alle aufgezogen nach den Prinzipien des CC. Erzähle uns erst mal, wie das konkret aussieht, und dann, wie die Kinder bis jetzt so geworden sind.

TH: Ich hatte großes Glück, weil ich das CC-Buch 1977 gelesen habe, als ich mit meinem ersten Kind schwanger war. Ich habe angefangen, weil mein Baby genau die genannten evolutionären Erwartungen zu haben schien. Und auch als Mutter fühlte es sich „richtig“ an, auf eine bestimmte Art für mein Baby zu sorgen, so wie „genau so sollte ich es machen“. Das ist schwer zu beschreiben für jemanden, der es nicht getan hat. Man müsste die Leute dazu kriegen, das auszuprobieren. Wenn Du anfängst, Dein Baby zu tragen, mit im zusammen zu schlafen, es wirklich zu säugen, wenn es will, manchmal mehrmals in einer Stunde, dann bildet sich eine kraftvolle Verbindung, die sagt „So sollte das Leben sein“.

J: Kann ich was einwerfen? Wenn die Mutter nicht auch diese bestimmten angeborenen Erwartungen hätte, wie es sein soll, dann würde es nicht funktionieren. Und das gilt nicht nur für Babies und Mütter. Wir als Spezies haben ein Sinn dafür, was für uns als Spezies richtig ist, genau wie etwa Kaninchen. Du legst einem Kaninchen eine Möhre und eine Rakete vor, und es beißt in die Möhre, nicht in die Rakete. Es weiß, was für es passend ist. Theresa sagt es auf poetischere Weise, dieses Gefühl von Richtigkeit, Instinkt, wenn man so will. Das ist Teil unseres Charakters. Wenn die Mütter das nicht hätten, könnten die Babies sich schwarz schreien – was sie leider heute oft müssen, da Dr. Spuk oder wer immer den Müttern erzählt hat, sie dürften dem Kind nicht antworten. Danke Theresa, aber sprich weiter.

E: Du hast von vom Stillen gesprochen, wann immer das Kind will, vom Tragen der Kinder, viel Nähe, mit den Kindern zu schlafen. Du hast mit Deinen Kindern zusammen geschlafen und sie gestillt, bis zu welchem Alter?

TH: Bis sie von selbst das Interesse am Stillen verloren, das war bei jedem Kind anders. Ich glaube, eine wichtige Sache, die ich aus dem Buch gelernt habe, war, für ein Kind verfügbar zu sein und verfügbar, um auf das zu reagieren, was die Kinder brauchten, aber nicht so sehr, um dem Kind etwas aufzudrängen. Ich weiß nicht, ob ich das gut erkläre, aber z.B. haben sie ihren eigenen Rhythmus, wann sie kein Interesse mehr am Stillen haben. Ich mache mir kein Konzept, „so, dieses Kind stille ich, bis es vier Jahre alt ist“, sondern ich stille das Kind, bis es das nicht mehr braucht.

E: Gib´ uns ein paar Zahlen.

TH: Am frühesten hörte ein Kind auf, als es fast drei war. Am spätesten dran war eins mit fünf.

E: Ich denke, das kommt auch etwa so hin mit den anderen Familien, von denen ich weiß. Mit anderen Worten, üblicherweise dauert es weit länger als ein Jahr.

TH: Ja, und ich denke, wenn man sich die Forschung anschaut, das scheint rund um die Welt etwa gleich zu sein mit der Stillzeit.

E: Wie steht`s mit dem zusammen Schlafen aus?

TH: Das war auch verschieden bei jedem Kind. Schwer, ein Alter anzugeben. Es gab eine Zeit, wo sie nicht mehr so interessiert daran waren, bei mir zu schlafen. Manchmal schliefen sie zusammen in einem Bett, entweder alle vier, oder zu zweit oder zu dritt. Und manchmal wollten sie alleine schlafen. Und sie kamen manchmal auch zurück. Ich erzähle von meiner Tochter, die jetzt 21 ist. Als sie 16 war, kam sie in mein Zimmer, weckte mich auf und fragte „Kann ich bei Dir schlafen?“ Ich sagte ja, sie kletterte ins Bett, krabbelte rüber zu mir, und zehn Minuten lang hat sie nichts gesagt. Dann sagte sie „Rob (ihr Freund zu der Zeit) und ich haben Schluss gemacht.“ Dann kuschelte sie sich an und schlief ein.

E: Mit anderen Worten, eine Zeit, um sich mitzuteilen.

TH: Ich war wirklich glücklich, dass ich immer noch ein Trost für sie sein konnte, als sie diese unangenehme Erfahrung hatte, fühlte sie sich gut damit, mir wieder nahe zu sein.

E: Die Angst, die manche Menschen haben ist, „wenn ich das mit meinen Kindern mache, dann werden sie am Ende sehr abhängig sein!“ Und deshalb, Theresa, sind Deine Kinder am Ende unselbständig und abhängig geworden?

TH: Nein.

J: Genau das Gegenteil.

TH: Sie sind so selbständig, manchmal denke ich, zu sehr, es überrascht mich immer wieder. Um noch mal von meiner Tochter zu reden, ich habe sie gestillt, bis sie etwa fünf war, und sie war wie festgeklebt an mir, bis sie etwa acht war. Sie war, was manche Leute ein sehr bedürftiges Kind nennen, bis sie acht war, brauchte sie es, die meiste Zeit mit mir zu verbringen. Als sie 15 war, flog sie alleine durch den Kontinent, um Freunde zu besuchen, mit 16 hielt sie einen Vortrag auf einer internationalen Konferenz, zu der sie ebenfalls geflogen war, in (New Brunswick?), eine weitere Provinz in Kanada. Sie ist herangewachsen von dem Mädchen, das mit zwei nie von meinem Schoß herunter ging, zu einer bemerkenswert unabhängigen jungen Frau. Wer sie vorher und nachher gekannt hat, mag das kaum glauben. Und trotzdem ist sie mir immer noch sehr nahe. Wir haben immer noch eine sehr enge, liebende Beziehung, die ich sehr genieße und ich glaube, sie auch. Wir sehen uns oft, wir sprechen oft. Sie wollte sogar heute vorbeikommen, aber sie hat an der Universität zu tun. Es war genau das Gegenteil von dem, was die Leute vorhergesagt hatten.

SC: Ich glaube, die typisch amerikanische Beziehung zu Kindern ist tief durchdrungen von – ich würde fast sagen, einer Furcht vor Intimität. Das ist eine gesellschaftliche Krankheit. Ich finde es immer wieder verblüffend, wie sehr unsere Tochter von selbst nach Unabhängigkeit strebt, je mehr wir für sie zugänglich sind.

E: Du managst eine Website namens „continuum-concept.org“? Wie hast Du anfänglich von dieser Art Kindererziehung gehört?

SC: Man könnte sagen, dass meine Frau und ich von vornherein offen waren. Wir hatten eine Hausgeburt. Wir hatten uns schon entschieden, Stillen auf Abruf im Familienbett zu praktizieren, aber es gab einige Dinge, die durch unsere amerikanische Konditionierung nicht durch kamen. Eins davon war das ständige Halten. Als unsere Tochter etwa zwei Monate alt war, war meine Frau äußerst frustriert geworden mit dem Konzept, das sie gehabt hatte, dass sie in der Lage sein sollte, das Kind herunter zu nehmen und damit OK zu sein. Aber immer, wenn sie unsere Tochter absetzte, weinte sie (die Tochter, Anm. d. Üb.). Das fühlte sich nicht richtig an. Wir waren schließlich so frustriert und erschöpft von der allgemein üblichen Methode, dem Kind zu erlauben, es „auszuweinen“ – die von Richard Furber populär gemacht wurde. Wir hatten eine Verabredung mit unserer Ärztin, sie empfahl uns, das CC zu lesen. Als wir das lasen, gab es unseren Gefühlen Sinn und Wert und ließ uns wissen, dass es wirklich in Ordnung und natürlich war, unser Kind die ganze Zeit zu halten. Und in der nächsten Zeit lernten wir viel darüber, diese Methoden in die moderne Lebensweise zu integrieren, was wirklich eine Herausforderung ist.

E: Ingrid Bauer, Du hast zwei Kinder, 3 und 15 Jahre alt. Wie geht`s denen? Sind sie glückliche und gesunde Kinder, sind sie abhängig?

IN: Ich denke, ich sehe das ein bisschen anders. Ich ziehe meine Kinder nicht in einer bestimmten Weise auf, damit sie sich in einer bestimmten Weise entwickeln. Für mich ist es mehr so, dass ich im gegenwärtigen Moment auf meine Kinder reagiere in der Art und Weise, die sich richtig anfühlt; es ist so, als könnte ich gar keine andere Wahl treffen. Und ja, sie sind fröhlich, ausgeglichen und unabhängig, all das. Aber das ist nicht mein Focus; ich versuche nicht, eine bestimmte Art von Produkt zu modellieren.

E: 15jährige, speziell Jungs, haben einige spezifische Probleme. Wie geht es da Deinem 15jährigen Sohn? Hat er die üblichen Probleme, weniger davon, oder andere Probleme?

IN: Ich sehe nicht, dass er Probleme hat. Jedenfalls nichts, womit er nicht im Alltag umgehen könnte. Wir sind uns sehr nahe, und gleichzeitig ist er sehr reif und unabhängig. Ich mag nicht mal die Worte abhängig und unabhängig, eher (hier kommt ein Wortkunststück, das im Deutschen nicht funktioniert; das passendste deutsche Wort wäre „interdependent“, Anm. d. Üb.). Ich denke, wenn Du Kinder nach dem CC aufziehst, dann sind sie interdependent, in Beziehung. Wenn die Leute glauben, dass mein Dreijähriger sehr abhängig ist, dann denkt ein Teil von mir, das ist genau das, was er ist, das ist genau das, was er gerade braucht, und genau so würde ich ihn als Dreijährigen auch wollen. Ein Dreijähriger braucht seine Eltern sehr, er braucht auch gestillt zu werden, gehalten und getröstet zu werden, nah bei mir zu schlafen. Das sind ganz normale Dinge, die er braucht; es ist sein Job, abhängig zu sein, bis er heranwächst, um interdependent zu sein. Und sich weg bewegen kann, wenn er es braucht.

E: Jean, eine Frage. Wie unterscheiden wir zwischen der natürlichen, gesunden Art der Kindererziehung, für die Du eintrittst, und dem Verwöhnen von Kindern?

J: Puh, diese Frage ist ja weit ab… In einer Minute werde ich’s wissen, warten Sie mal… Als ich in England war, da wurde gerade Dr. Spock (???) im Radio interviewt, ich hörte das per Zufall. Jemand rief an und fragte, ob er sein Kind verderben könnte, wenn er ihm zuviel Liebe und Aufmerksamkeit gibt oder es hochhebt, wenn es will – ich selbst hielt es ja für keine gute Idee, es überhaupt runter zu setzen. Und Dr. Spock sagte, zu meiner Überraschung – „Nein, Sie können das Kind nicht verderben, indem Sie ihm zu viel Liebe und Aufmerksamkeit geben“ – aber dann kam es – „bis es drei Monate alt ist.“ Er sagte, wenn man dem Kind danach noch zuviel Liebe und Aufmerksamkeit gäbe, würde es ein Tyrann – er benutzte tatsächlich das Wort „Tyrann“. Die Idee eine rosanen kleinen, drei Monate alten Tyrannen war einfach so abscheulich, aber die Leute hörten dem zu! Jetzt werde ich die Frage beantworten. Ich kann übrigens Ingrid kaum hören. Was ist gemeint mit dem Wort „verwöhnen“ oder „verderben“ in unserer Gesellschaft? Das heißt, wenn Du das Kind hochnimmst, wenn es weint, dann wird es so verdorben, dass es irgendwann wieder weint, damit Du es wieder hochhebst. Um es nicht zu verderben, sollte man das tun, was Furber sagt, vor allem im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Schlafen; man soll das Baby allein schlafen lassen, wie Scott sagte, lasse es sich „ausweinen“. Zuerst gehst Du nach fünf Minuten und tröstest das weinende Baby. Dann machst Du zehn Minuten daraus. Später lässt Du es für fünfzehn Minuten schreien und leiden, dann zwanzig. Mit anderen Worten, Du kultivierst Verzweiflung und Resignation in dem Baby. Du trainierst es, die Hoffnung aufzugeben, und das führt zu Verzweiflung. Du ignorierst die Trauer und Agonie, die hörbar und verstehbar im Schreien und Weinen enthalten ist. Um selbst davon zu kommen, trainierst Du das Kind, die Hoffnung aufzugeben, dass es sich auf Dich verlassen kann. Furber hat diesen Prozess vor einigen Jahren in einer 20/20-Show (populäres Fernsehmagazin in den USA, Anm. d. Üb.) gezeigt. Mit einem Kameramann hat er ein Kind einige Nächte lang durch einen dieser Einwegspiegel gefilmt, im Schlafzimmer der Eltern. Das Kind dachte, es sei allein im Zimmer, aber es wurde gefilmt. Nachdem das Kind einige Zeit geschrien und gekämpft hat, dieser knuffige kleine Kerl in seinem Schlafanzug, greift er sich schließlich einen Teddy oder irgend etwas Unbelebtes, und schläft ein. Und Furber sagt schließlich triumphierend zu den Eltern: „Sehen Sie: Er hat gelernt, sich selbst zu trösten!“ Diese Worte sind wie Eis ins Herz, oder? „Ihr Kind hat gelernt, sich selbst zu trösten.“ Du erkennst immerhin die Trauer an, mit dem Wort „trösten“. Du sagst: „Er hat, was Euch betrifft, aufgegeben. Habt Ihr ein Glück!“

IN: Ich denke, das wirklich Wichtige in Jeans Worten ist, dass das Baby lernt, dass es sich auf die Eltern verlassen kann. Ich denke, das ist fundamental, dass das Kind weiß, es kann seinen Eltern trauen, dass sie seine Bedürfnisse erfüllen. Deshalb traut es sich selbst auch, seine eigenen Bedürfnisse richtig zu spüren, zu verstehen und auszudrücken, es wächst da herein. Ich sehe das bei meinem Teenager-Sohn; er weiß, dass er sich jetzt selbst trauen kann, dass er sich um sich selbst kümmern kann, und dass er in seinem Menschen hat, denen er vertrauen kann, wenn er wirklich Hilfe braucht. Er kann mir Sachen erzählen, und sogar seine Freunde können mir Sachen erzählen, die sie ihren eigenen Eltern nicht erzählen, weil mein Sohn weiß, dass es ein tiefes Vertrauen gibt, das nie gebrochen wurde. Er braucht vor mir nichts Persönliches zu verstecken, nicht Schwieriges. Er weiß auch, dass er seinen eigenen Gefühlen trauen kann, und wenn etwas in seinem Leben auftaucht, dann weiß er aus sich selbst heraus, was richtig ist und wie er darauf reagieren kann. Ich denke, das fundamentale Vertrauen ist etwas, das im CC intakt gehalten wird. Wenn ich ein Kind sehe, das andere als „Tyrann“ bezeichnen, dann sehe ich ein Kind, dessen Bedürfnisse nicht erfüllt werden und das immer noch genügend Wahrnehmung von sich selbst hat, um einzufordern, dass seine Bedürfnisse erfüllt werden.

Werbepause –

E: Was spezifische Techniken betrifft – was ich höre ist, trage das Baby viel, verliere vielleicht überhaupt nie den Körperkontakt mit ihm, bis das Baby selbst bereit ist – und ich höre, Familienbett; schlafe mit den Kindern. Geht es da noch um mehr?

IN: Oh, absolut. Das sind die beiden Punkte, die von der AB-Methode populär gemacht wurden. Aber es geht um ein viel größeres Bild. Es geht darum, was das Menschsein bedeutet und wie wir miteinander umgehen. Ein Teil davon bedeutet, Dein Kind in Dein tägliches Leben zu integrieren. Das heißt nicht, auf dem Boden zu sitzen und das Baby zu unterhalten. Es bedeutet, dass die Kinder, auch mit zunehmendem Alter, ein Teil des Alltagslebens sind. Sie sollen „auf Deiner Hüfte“, durch die Teilnahme, übers Leben lernen. Auch ältere Kinder solltest Du mit Respekt behandeln und erkennen, dass sie auch Menschen sind und es brauchen, mit Respekt behandelt zu werden, wie man es in unserer Gesellschaft in Eltern-Kind-Beziehungen kaum sieht. Es hört also mit den grundlegenden Dingen nicht auf, aber die bauen ein Fundament, auf dem alles Weitere basiert.

E: Scott, Du hast eine dreijährige Tochter. Hast Du vor, sie durch die übliche Schulroutine zu schleusen, Kindergarten, Vorschule, usw.? Oder hast Du andere Pläne?

SC: Wir hoffen, dass ihr Interesse mehr in Richtung „Entschulung“ geht, ein Konzept, welches John Hobe populär gemacht hat. Da geht es mehr um natürliches Lernen, wie im CC, wie Kinder ganz natürlich lernen, indem sie am Leben teilnehmen. Jean zeichnet eine wundervolle Szene in ihrem Buch, wo die Frauen Maniok zerstampfen, ein typisches Nahrungsmittel bei denen, und die Kinder laufen herum und sind frei, teilzunehmen, wenn sie interessiert sind. Eins der Mädchen setzt sich hin und die Frauen halten kleine Mörser für sie bereit, wann immer sie interessiert sind, diese besondere Fertigkeit zu erlernen, die Teil des Lebens dort ist. Diese Art von Lernen wollen wir bei unserem Kind unterstützen. Wenn sie an der Schule interessiert ist, werden wir das natürlich unterstützen, wie auch immer wir können.

E: Theresa, sind Deine Kinder durch die normalen Schulen gegangen?

TH: Meine Kinder hatten Hausunterricht, als sie noch jünger waren. Da endete meine Ehe, ich fing an zu arbeiten, also kamen sie in unterschiedlichen Altern in die Schule. Seitdem sind ein paar wieder aus der Schule raus, aber manche sind an der Universität. Rein und raus also, sozusagen. Als ihre Bedürfnisse und Interessen sich veränderten, entschieden sie, was sie tun wollten.

E: Jean, sollten wir junge Menschen vom Arbeiten abhalten, bis sie 16 oder 18 Jahre alt sind?

J: Oh, ganz und gar nicht. Der Schlüssel ist, nicht Kind-zentriert zu sein, zu keinem Zeitpunkt, sondern Erwachsenen-zentriert. Du tust, was immer Du tust und hast Deine Aufmerksamkeit dabei; hoffentlich starrst Du nicht nur auf einen Computer, sondern machst was Interessantes, Körperliches, Sichtbares wie Kochen, Waschen, Gartenarbeit, wo kleine Kinder zuschauen können und was für sie Bedeutung hat. Als erstes wollen sie zuschauen. Wenn sie also noch sehr klein sind, dann trage sie so, dass sie sehen können, was Deine Hände tun. Sie wollen das sehen. Später wollen sie auf den Tisch klettern, damit sie sehen können, was Du am Herd machst oder auf dem Tisch oder so. Sei zentriert bei dem, was Du tust, frage nicht „So, was soll Mami jetzt als Nächstes tun?“, sondern sei zentriert in Deiner Tätigkeit und erlaube ihnen, erwarte von ihnen, vertraue ihnen, dass sie erst zuschauen wollen, und dann brauchst Du ihnen nicht zu sagen, sie wollen helfen wollen, denn sie wollen sowieso helfen. Die Yequana-Frauen geben den kleinen Mädchen einfach Werkzeug, um teilzunehmen, aber sie sagen nicht „Oh, wie erstaunlich, was Du tust!“, was doch am Ende eher verletzend ist, diese erstaunte Preisung – sehr verletzend für ein Kind, wenn man erstaunt darüber ist, dass es etwas Richtiges tut. Sie erwarten einfach vertrauensvoll, dass das Kind mitarbeiten will, und sie wollen das auch, ganz natürlich. Sie bleiben Erwachsenen-zentriert. Ich hatte eine ganz erstaunliche Einsicht, leider erst nachdem ich bei einer Erziehungskonferenz in England gesprochen hatte, als ich wieder zurück in Kalifornien war. Ich war überrascht, dass die so großes Interesse an meiner „Anti-Erziehung“ hatten. Sie stellten mich vor als eine, die „gegen Erziehung“ sei, das war recht amüsant. Ich habe festgestellt, dass Lernen ganz natürlich ist. Ein Baby erforscht als erstes die Welt, schaut herum, schmeckt alles, berührt alles, riecht an allem, probiert alles aus .Lernen ist Teil unserer Natur. Aber ich stellte fest, dass Lehren nicht Teil unserer Natur ist. Sehr oft stört das Lehren das Lernen. Theresa sagte was darüber, Dinge zur Verfügung zu halten. Tue die Dinge nicht weg, lasse die Kinder bei Dir sein, sie sehen, was Du tust, lasse sie Deinen Unterhaltungen zuhören. Sie wollen mitten in der Action sein, nicht ausgeschlossen, weggeschlossen im Säuglingszimmer. Sie können wunderbar schlafen, wenn Du auf der Tanzfläche bist und sie im Tragetuch hast. Lasse sie nicht am Tisch! Sie werden nicht aufwachen. Wenn ein Baby schläfrig ist und Dir vertrauen kann, dass Du es nicht runtersetzt, wenn es einschläft, dann wird es einfach einnicken, im Wohnzimmer, im Licht, im Lärm der Unterhaltung oder des Fernsehers. Du musst Babies nicht in einen leisen Raum bringen, um zu schlafen. Stille ist eine Bedrohung für die Kinder, denn dann wissen sie, dass sie allein gelassen sind. Da fühlen sie sich nicht wohl, deshalb weinen sie. Behalte sie bei Dir!

E: Leider geht die Zeit uns langsam aus. Noch eine weitere Frage, an Jean oder wer sonst antworten möchte; denkt aber daran, dass uns langsam die Zeit ausgeht. Nehmt mal an, Ihr trefft gelegentlich so eine Person, die von dem Ganzen völlig verängstigt ist. Ich sprach mit einer Frau aus New Hampshire, deren Nachbar sie beim Sozialdienst (es gibt einen recht scharfen Sozialdienst in den USA, der sich um diverse gut sichtbare Dinge wie Unterernährung kümmert und um formelle Dinge, die möglicherweise typisch amerikanisch sind, Anm. d. Üb.) angezeigt hat, weil sie mit ihrer dreijährigen Tochter im gleichen Bett schlief und weil sie ihr immer noch die Brust gab. Sie wurde angezeigt wegen Kindesmissbrauch. Das Kind wurde ihr tatsächlich weggenommen, und sie musste eine sehr lange Schlacht auskämpfen, um ihre Tochter zurückzubekommen, was ihr am Ende auch gelang.

J: Wie beängstigend! Kann man sich das vorstellen?

E: Ja, unglaublich. Aber gibt es da draußen nicht Leute, die das Ganze grundlegend missverstehen? Was sagst Du zu denen?

J: Robert, was kannst Du sonst tun, außer gerade heraus die Wahrheit zu sagen? Menschen sind verbrannt worden, verfolgt worden, wenn sie die Wahrheit sagten, aber wir müssen es trotzdem tun. Pioniere mussten immer Opfer bringen und tapfer sein. Mein Buch ist in viele verschiedene Sprachen übersetzt worden; allein in Deutsch wurden über eine halbe Million Exemplare verkauft. In Deutschland, Schweiz, Österreich. In vielen Ländern wird es zum Beststeller – DER Bestseller überhaupt in Israel, in Hebräisch, da wurde es 1999 übersetzt. Ich denke, die meisten Menschen, die nach dem CC leben, haben durchaus ein etwas evangelisches (heißt im amerikanischen Zusammenhang: etwas mild Missionarisches, Anm. d. Üb.) Verhältnis dazu; sie wollen, dass andere Menschen es verstehen, sie haben Mitgefühl und sagen, mein Gott, bitte, verstehe und benutze dies und foltere Dich nicht selbst! Die Kinder, die unter dieser schrecklichen Pathologie leiden, die „normal“ genannt wird, haben eine solche Menge Wut in sich, weil sie früh um wichtige Erfahrungen betrogen wurden; und sie müssen diese Wut unterdrücken. Lehrer und Eltern haben eine Erwartung an die Kinder, dass die sozusagen versuchen „mit einigen Sachen davonzukommen“ Ihre Wut ist überall zu sehen, die ganzen Videospiele, auch in „Tom & Jerry“, wo die kleine Maus immer wieder gegen die große Katze gewinnt. All dies ist Wut, Rache und Groll, wovon man gemeinhin einfach annimmt, dass es in Kindern existiert, ohne das je offen zu sagen. Aber das ist nicht unsere Natur. Unsere Natur ist tief sozial.

E: Ich muss Dich leider abwürgen. Das ist alles so faszinierend und so wichtig; ich hoffe, ich kann Dich wieder in die Show holen. Ich kann dieses Buch nur empfehlen, gibt es auch als Taschenbuch. Wir sprachen mit Jean Liedloff und einigen Eltern, ich hoffe, Ihr wart alle fasziniert, ich war es jedenfalls. Wir sprachen über eine alternative Erziehungsmethode, faszinierende Sachen, nicht ganz einfach, denke ich, denn ich würde gern mehr wissenschaftliche Daten sehen, was die Ergebnisse dieser Erziehungsmethode sind im Gegensatz zu konventionellen Methoden. Ich brauche immer wissenschaftliche Daten. Logik reicht mir nicht; ich will wirkliche Ergebnisse sehen. Ihr könnt mich jederzeit erreichen, per E-Mail, unter psychtoday@juno.com (vielleicht nicht ganz richtig verstanden, Anm. d. Üb.) oder unsere Website besuchen, „psychologytoday.com.


Synchronübersetzung von Alexander Meneikis

An dieser Stelle ein ganz besonderes Dankeschön an Alexander!!!