Jean Liedloff im Interview mit Dr. Epstein von „Psychology Today“ – Juli 2000

Vorbemerkung: Der Text ist, wie bei den Bali-Videos, sinngemäß übersetzt, nicht wörtlich. Die meisten Höflichkeitsfloskeln habe ich ausgespart, ebenso Dr. Epsteins gelegentliche Bemühungen, gegen Jeans Redefluss zu Wort zu kommen, wobei er aber meist nur ein paar Silben weit kommt.

Epstein: …heute eine ungewöhnliche Frau, mit der ich noch nie gesprochen habe, obwohl ich es jahrelang wollte, auf einem Hausboot mit zwei Katzen; sie war niemals verheiratet, keine Kinder. Sie ist Autorin eines Buches namens „Das Continuum Concept“, ein bemerkenswertes Buch, welches vieles enthält, worüber wir meiner Meinung nach sehr ernsthaft nachdenken sollten. Ich werde einiges davon zitieren in einem Buch, das ich selbst gerade schreibe, über Kindererziehung.

Hallo, Frau Liedloff, willkommen bei „Psychology Today“

Jean Liedloff: Ja, danke. Hallo, Dr. Epstein.

E: Ich bin ein großer Bewunderer Ihres Buches.

J: Das höre ich gern.

E: Wo kam dieses Buch her, welche Erfahrungen führten Sie dahin, dieses erstaunliche Buch zu schreiben?

J: Es fing an mit meiner ersten größeren Reise, nachdem meine Großmutter gestorben war, als ich mir dachte, ich sollte mich in Richtung Unabhängigkeit entwickeln. Also reiste ich natürlich zuerst nach Europa, nach Paris, die obligatorischen ersten Stationen für ein Mädchen aus New York; ich bin in Manhattan aufgewachsen, geboren in vierter Generation dort. Dann ging`s weiter nach Italien. Überall wo ich war, gab es jemanden, der mich mit den Gastgebern für meine nächste Reiseetappe bekannt machte. Irgendwann traf ich dann ein Mädchen aus der Medici-Familie – vielleicht hätte ich da etwas vorsichtiger sein sollen (lacht) – und sie stellte mich den Jungs aus dem Ort vor, Sie wissen schon., die „richtigen“ Jungs, und einer von denen hatte eine Menge Diamanten in einem Fluss im südamerikanischen Dschungel gefunden. Den sollte ich bald treffen. Als wir uns alle gegen halb sieben wie üblich in einem Tearoom trafen, schien dieser Typ entsetzlich arrogant zu sein, ein verzogenes Balg. Es wurde erwähnt, dass er und ein anderer Junge demnächst abreisen würden; der andere sollte die Expedition finanzieren. Denn Rico, der Finder der Diamanten, hatte alle Edelsteine verbraucht, wie ich es beschrieb für „schnelle Autos und dazu passende Frauen“. Er hatte in seiner Stammbar dem Kellner Diamanten als Trinkgeld gegeben. Er war damals also alle Diamanten los, und der andere Junge sollte für das Privileg, mit ihm gehen zu dürfen, die Expedition finanzieren. Normalerweise würde ich mich mit einem derart arroganten Typen überhaupt nicht abgegeben, aber ich wollte mal sehen, ob ich es ein bisschen in seiner Nähe aushalten würde, zumal er ja in 4-5 Tagen abreisen würde. Ich machte diesen psychologischen Test, wie lange man jemanden ertragen könnte, der so selbstbezogen und eitel war. Er sah gut aus und hatte einen Titel, und deshalb waren viele Touristenmädchen natürlich von ihm ganz angetan. Im letzten Moment, als ich dachte, ich würde ihn loswerden, kurz bevor der Zug nach Paris losfuhr, von wo aus die beiden losfliegen würden, fragte er mich, ob ich mit den beiden in den Dschungel kommen würde. Ich hielt das für einen Scherz und sagte „Klar, ich habe schon alles gepackt!“ Ich hatte schon vorher gemerkt, dass er keinen Sinn für Humor hatte, und es stellte sich heraus, dass er es ernst meinte. Er sagte, es sei niemals zuvor ein nicht-indianisches, weißes Mädchen dort gewesen. Ich dachte, huch, ich fahre in den Dschungel! Als Kind schon hatte ich immer ein weiblicher Tarzan sein wollen. Nicht gerade der gezierte Jane-Typ, eher ein weiblicher Tarzan. Grüne Häuser, das Mädchen, das nach seinem Stamm sucht, all diese ganze Romantik. So dachte ich, jetzt würde ich sogar mit denen fahren. Und so kam ich los. Sie fragen sich vielleicht, warum Dschungel? In meinem kleinen schmalen Körper war ein Verlangen nach dem, ich will nicht sagen reinen, aber ganz unvermischten Lebensraum…

E: Etwas Grundlegendes?

J: Ja, etwas Grundlegendes. Grundlegend für unsere Spezies, etwas wo die Welt ohne Frage „richtig“ erscheinen würde, verstehen Sie?

E: Ja, natürlich, unvermischt und grundlegend.

J: Deshalb war ich, „Klein-Jeannie“, die ich damals war, von diesem Plan sehr angezogen. Auf meinem Weg sprach ich mit Freunden darüber und sagte „Habe ich ein Glück, ich fahre in den Dschungel!“ Die sagten „Großer Gott, Glück? Die Moskitos werden Dich stechen, die Krokodile werden Dich fressen!“ Die fanden überhaupt nicht, dass das ein Glück sei.

E: Das ist interessant; ich wusste nicht, dass Sie auf diesem Weg dorthin gelangt sind. Eine meiner Verlegerinnen aus New York ist heute aufgebrochen zu einer Abenteuerreise in den Dschungel von Costa Rica. Diese Reise wird von einem Psychologen geleitet, der dies als eine Form von Behandlung für Menschen anbietet, um sie durch eine primitive, reine Erfahrung zu revitalisieren. Das hat Ähnlichkeit mit Ihrer Geschichte.

J: Ich bin nicht ganz sicher, na ja, fast. Man ist ständig hungrig, wird dauernd von irgendwas gebissen und das juckt, man schläft in Hängematten – Du hast also so viele reale Sorgen, dass Du keine Zeit für psychologische Sorgen erübrigen kannst. Sie verstehen.

E: Oh ja. Wie lange sind Sie schließlich dort geblieben?

J: Ich habe insgesamt fünf Expeditionen gemacht. Genaugenommen war es eine Ewigkeit, weil ich ein anderer Mensch war, als ich herauskam. Die Indianer dort wo wir waren, trugen schon seit kurzem T-Shirts und die Männer sprachen rudimentäres Spanisch. Die Frauen wurden eher abgeschirmt, und Männer konnten nicht auf sie zugehen. Ich konnte mich ihnen natürlich nähern und so mit den Männern und den Frauen reden. Nicht dass da viel Konversation stattgefunden hätte, aber wir hatten miteinander zu tun. Das war die erste Expedition, die war etwa sieben Monate lang. Während dieser Expedition kriegten Rico und ich Malaria. Das war interessant.

E: Das ruiniert einem den Tag.

J: Toll war’s nicht, aber der Effekt war interessant. Als ich krank wurde, war ich fünf Fuß, neun Inches und drei Quarters groß (1 foot = 30,48 cm; 1 inch = 2,54 cm; 1 quarter wahrscheinlich 0,635 cm; das macht 1,77 m, Anm. d. Üb.), und offensichtlich hatte ich eine besondere, seltene Form von Malaria, wie sich herausstellte, nicht ganz unbekannt, die einen wachsen lässt, selbst wenn man bereist ausgewachsen ist. Danach war ich 5’11 groß (1,80 m, Anm. d. Üb.)!

E: Unglaublich!

J: Ja, nicht wahr? Aber als ich in mein Hotel zurückkehrte, wo ich ein paar Tage blieb, schien es mir, als sein das Bett etwas kürzer geworden. Ich dachte, kann doch nicht sein, dass ich mich gedehnt habe? Und dann fragten meine Mutter und meine beste Freundin und meine Schwester alle „Jean, bist Du größer geworden?“ Dann maß ich mich selbst, und, ja, ich war eineinviertel inch gewachsen. Zu dem Zeitpunkt, als ich dieses myteriöse Fieber kriegte, befanden wir uns in einer dieser kleinen Dschungelstädte, die sich um einen Fundplatz von Diamanten oder Gold gruppieren, und die Regierung schickt jeweils einen Arzt in diese Städtchen. Rico hatte die klassische Version von Malaria mit Fieber und Delirium und all dem. Wir hatten keinerlei Medikamente dafür; Rico war der Planer der Expedition und er meinte, da er nie vorher diese Krankheit gehabt hatte, existierte sie nicht.

E: Lassen Sie mich davon etwas wegführen. Insgesamt waren Sie ja ein paar Jahre dort.

J: Fünf Expeditionen.

E: Ja, und dann haben Sie dieses bemerkenswerte Buch geschrieben, in dem Sie starke Gefühle darüber ausdrücken, wie wir unsere Kinder aufziehen sollten. Es geht um die Grundlagen des „Continuum Concept“. Was ist dieses Konzept?

J: Das Kontinuum, auf das ich mich beziehe, ist das Kontinuum im Verhalten unserer Spezies und wie wir uns gegenseitig behandeln, durch unsere Evolutionsgeschichte hindurch. Ich gehe davon aus, dass wir uns nicht nur an die Umwelt angepasst haben, also die Temperaturen und Lichtverhältnisse, die generelle Umwelt und vorhandene Nahrung, sondern dass wir uns auch angepasst haben an bestimmte Erwartungen aufrecht gehender Primaten, über diese lange Zeit hinweg und während vieler evolutionärer Vorgänge und Veränderungen. Wir hatten über lange Zeit hinweg kontinuierlich bestimmte. Erfahrungen. Was ich nun sage, und was das akademische Establishment nicht akzeptiert, ist, dass wir uns an die Erwartung dieser Erfahrungen angepasst haben, über Hunderttausende oder sogar Millionen von Jahren. Deshalb erwarten wir diese Erfahrungen.

E: Wie findet sich das in der Kinderpflege wieder? Was sind gute Anwendungen, was sind schlechte Anwendungen?

J: Ich definiere, gut ist das, was mit den Erfahrungen unserer Ahnen übereinstimmt, mit angeborenen, natürlichen Erwartungen. Wenn z.B: ein Baby geboren wird, es kommt aus der Gebärmutter, und was wir tun ist, wir stecken im Sachen in die Nase und in den Hals, messen, wiegen es und packen es in einen Kasten, gewöhnlich umgeben von leblosem Stoff. Wenn wir mal kurz darüber nachdenken, ist das ein sehr neuartige Erfahrung in der Geschichte neugeborener Babies. Wie die Natur es beabsichtigt hat, habe ich bei den Indianern gesehen. Das Baby kommt zur Welt, wird gehalten und gesäugt, und kommt nicht zum Weinen. Es gibt auch keinen Grund dafür, denn Weinen ist ein Signal, das sagt, „wäh, meine Erfahrung ist falsch, Hilfe!“ Wir brauchen kein Wörterbuch, um das zu verstehen, denn dieses Verstehen ist ein Teil unserer Natur gemäß der Evolution. Es heißt „Tröste mich! Ich habe nicht die richtige Erfahrung!“ Was wir vor sehr kurzer Zeit getan haben, ist, Modeströmungen zuzuhören, wer immer gerade in Mode ist, Dr. Spuk, Dr. Penelope (???), darüber, wie man gegen das Baby gewinnt, in der Annahme, dass wir mit ihm Krieg führen. Wenn man mal darüber nachdenkt, ist das absurd, dass wir die einzige Spezies sind, die Krieg mit ihren Nachkommen führt, dass wir einen Willen haben, der ihrem Willen entgegen gesetzt ist, mit dem wir gegen sie gewinnen müssen, um sie dazu zu bringen, das zu tun, wovon wir annehmen, dass es das Richtige sei. Ist doch verrückt, dass wir der natürliche Gegner unserer eigenen Kinder sein sollen! Aber so wird gedacht, solche Ideen wie, hebe das Baby nicht hoch, sonst wirst Du es verwöhnen!

E: Diese Indianer, die Sie so gut kennen gelernt haben, was haben die getan, anstatt sich auf diese Art von ihren Kindern zu trennen und mit ihnen Krieg zu führen, was haben die getan?

J: Sie halten das Baby, tragen es, schlafen in der gleichen Hängematte wie das Baby, 24-7 wie sie sagen (24 Stunden, sieben Tage die Woche, amerikanischer Kurzausdruck, Anm. d. Üb.). Das Baby wird niemals herunter gelassen. Es ist nicht immer die Mutter, aber irgend jemand trägt das Baby immer herum. Die lieben das! Es sind oft kleinere Jungs und Mädchen, welche die Babies tragen. Interessanterweise haben die das schon immer getan. Sehen Sie, Katzen brauchen ja auch kein Handbuch, wie sie ihre Kätzchen aufziehen sollen. Die Idee, dass wir die einzige Spezies sind, die dafür Handbücher braucht, ist auch ziemlich verrückt. Ziemlich kleine Kinder kümmern sich häufig um ziemlich große Babies, aber die lieben es, das zu tun. Wenn sie gesäugt werden müssen, bringen sie sie einfach zur Mutter. Ich habe fast nie ein Baby weinen gehört. Es gab auch keinen Grund dafür. Weinen ist ein Alarmsignal, das losgeht, wenn irgendetwas verändert oder korrigiert werden muss.

E: Einige unserer ZuhörerInnen haben bestimmt Fragen. Ich habe hier z.B. eine E-Mail von Melissa. Können wir eine kurze Pause machen, und Sie warten?

J: Mache ich.

(Werbeblock)

J: In der Tat schlafen die Indianer in Hängematten, was es unbequemer macht, das Baby dabei zu haben, aber es würde ihnen nicht im Traum einfallen, ohne das Baby zu schlafen.

E: Sie haben gesagt, Sie haben fast nie ein Kind weinen sehen. Manche würden sagen, das ist schrecklich, denn dadurch werden die Kinder ja sehr abhängig von ihren Eltern. Geschieht das so?

J: Naja, wir sind alle ziemlich abhängig, oder? Wenn wir geboren werden, sind wir nicht besonders unabhängig, sondern total hilflos. Aber Sie meinen wahrscheinlich eine emotionale Abhängigkeit, die bleibt, unangemessenerweise. Meinen Sie das?

E: Ja.

J: Interessanterweise ist genau das Gegenteil der Fall. Ich erkläre Ihnen, warum. Es wurde mir klar, während ich es studierte und darüber nachdachte. Wenn ein Kind das bekommt, was seinem jeweiligen Entwicklungsstand angemessen ist, wenn es hat, was es bekommt, bewegt es sich weiter zum nächsten Entwicklungsschritt, zum nächsten evolutionären Erfordernis. Du trägst das Kind 6-8 Monate lang, bis sein natürlicher Drang nach Unabhängigkeit erwacht, und es fängt an, z.B. von Deinem Schoß loszukrabbeln. Erst robbt es, dann krabbelt es, dann fängt es an zu laufen. Nachdem das Kind hatte, was es während der ersten Phase brauchte, die ich die „Im-Arm-Phase“ nenne. Wenn es etwa zwei Jahre lang bei seinen Eltern geschlafen hat, bewegt es sich von selbst in die Unabhängigkeit und sucht sich einen eigenen Schlafplatz, ohne Überredung oder „Na, möchtest Du nicht langsam Dein eigenes Bett, Schatz?“ Das ist eine ganz natürliche Bewegung zur Unabhängigkeit, die wir bei allen Tieren beobachten können. Die Kinder machen das selbst, wir müssen sie nicht aus dem Nest schubsen. Tatsächlich ist es genau das Gegenteil. Wenn Sie tief in Ihrem Herzen nachschauen, werden Sie feststellen, dass Sie immer in Mamis Bett wollten. Ich erinnere mich daran, sogar in ihr Bett zu hüpfen, nur um die verbliebene Wärme zu spüren und das, was meine Schwester und ich den „Mami-Geruch“ nannten. So nahe, wie wir daran kommen konnten, mit ihr in diesem Bett zu sein. Auf ganz verschiedene Arten versuchen wir, das zu erhalten, was wir verpasst haben. Ich glaube, es liegt in der Natur des Menschen und jeder anderen Spezies, nach den richtigen Erfahrungen in der richtigen Reihenfolge zu suchen, also auf die bisher vorhandenen Erfahrungen aufzubauen. Wenn irgend etwas fehlt, sucht man danach. Nehmen Sie etwa die Anziehungskraft von Drogen, von so etwas wie „verstandeslose Glückseligkeit“ des Heroinsüchtigen, oder jemand, der sein Bewusstsein ändert. Wozu wollen wir unser Bewusstsein ändern? Was ist so attraktiv daran, als Erwachsener ohne Verstand zu sein? Ich denke, das kommt daher, dass wir die verstandeslose Glückseligkeit nicht erfahren haben, als Baby umher getragen zu werden. Das ist mein Gefühl. Wir begeben uns auf viele verschiedene Weisen in Situationen, wo wir nicht erwachsen verantwortlich sein müssen, etwa Alkohol usw. Macht das Sinn?

E: Ich denke schon. Ellen Langer von der Harvard Universität war vor kurzem hier; sie studiert verstandeslose und besonders aufmerksame Bewusstseinszustände, seit 30 Jahren. Ich denke, sie würde zustimmen, dass wir viel Zeit verstandeslos verbringen, und dass viele von uns auch danach suchen. Sie würde sagen, dass wir als Erwachsene häufiger aufmerksam sein sollten. Wir haben eine Frage per E-Mail. „Liebe JL, viele Abonnenten Ihrer Internet-Liste und Teilnehmer Ihres Internet-Forums sind Impfungen sehr abgeneigt. Wie sehen Sie das?“

J: Ich meine, ich bin keine Expertin und will auch nicht so tun. Nur von meinem persönlichen Standpunkt aus, als „moi“, Miss Piggy, also ich, ich persönlich würde mich impfen lassen. Wenn man an das Entsetzen, das Leiden und den Tod denkt, den Seuchen gebracht haben, gegen die es jetzt Impfungen gibt… Speziell hier in Marine County in Kalifornien, wo eine Menge New Age-Leute wohnen, mit Kristallen und Blättergras (???) und diese Sachen, unter denen ist es in Mode „gegen Drogen“ zu sein (im Amerikanischen bedeutet „Drugs“ sowohl Drogen als auch Medikamente, Anm. d. Üb.), die haben lieber Kopfschmerzen als eine Aspirin zu nehmen. Nachdem ich zweieinhalb Jahre im Dschungel verbracht habe, wurde ich aufgrund von Notwendigkeiten zu einer Art Ärztin. Niemand anders erfüllte diese Aufgabe, also trat ich vor und tat, was immer ich tun konnte. Von Mal zu Mal nahm ich mehr Medikamente mit. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin für die so genannten „Wunderdrogen“ der westlichen Medizin, die so viel tun können. Menschen kamen von weit her mit ihrem Kanu gepaddelt, mit ihrer sterbenden Mutter. Ich gab ihr 3-4 Tage lang Penicillin-Spritzen und brachte sie zurück ins Leben und gab sie ihren Kindern zurück. Ich bin äußerst beeindruckt von der westlichen Medizin und den so genannten „Drogen“.

E: Es scheint, als hätten einige Menschen das CC zu wörtlich genommen und gemeint, wir sollten nur noch ein primitives Leben führen.

J: Das ist nicht wörtlich genommen, das habe ich niemals gesagt! Ich sage, lasst uns unsere Natur als Spezies respektieren. Ich habe niemandem gesagt, er solle mit dem Kanu zur Arbeit fahren, oder anstatt Kleider zu tragen, sollen Sie sich anmalen und Federn in die Ohren stecken.

E: Lassen Sie mich ein paar Jahre vorgreifen. Mich interessiert sehr das, was ich die „künstliche Ausweitung der Kindheit“ nenne. In westlichen Kulturen behandeln wir auch Jugendliche nach der Pubertät noch wie Kinder, anstatt sie in die Gesellschaft zu integrieren, sie arbeiten zu lassen und Dinge besitzen zu lassen. Ihr Buch eröffnet auch da Sichtweisen. Was denken Sie, wie wir junge Menschen behandeln sollten, wenn sie ein wenig älter sind, wenn sie die Kindheit hinter sich lassen?

J: Sogar sehr kleine Kinder, mit denen ich zusammen war, nahmen schon an der Arbeit der Älteren teil und hatten viel Spaß daran, eine tolle Zeit. Die menschliche Natur, die uns so viele Probleme bereitet, ist für die ein Genuss. Die Mädchen nahmen an der Arbeit der Frauen teil, die Jungen an der Arbeit der Männer, und die machten das einfach, niemand forderte sie dazu auf. Lange vor der Pubertät arbeiteten sie mit. Es wurde ihnen erlaubt, aber sie wurden nicht dazu gebracht. Es wurde von ihnen einfach erwartet, weil sie das immer tun. Sie wollen erst beobachten, dann imitieren, und dann wollen sie helfen. Das ist eingebaut, Du musst ihnen nicht sagen, sie sollen den Müll rausbringen oder so. Sie sehen, was getan wird, und sie wollen helfen. Unser Ansatz in der Erziehung ist „Du wirst es nicht mögen, aber wir werden Dich so oder so dazu bringen.“ Das behindert die natürliche Motivation, zum Lernen. Das klingt jetzt wahrscheinlich radikal und ich werde gelyncht oder geteert und gefedert, aber Lernen ist natürlich eingebaut. Was ein Baby tut, ist Dinge anfassen, beobachten, berühren, riechen; sobald sie beginnen zu kriechen, erforschen sie alles und probieren sie alles aus. Andere Tiere machen das auch. Sie schnüffeln an allem und finden raus, was so los ist. Ich habe das nicht ins Buch aufgenommen, weil ich erst später darauf kam. Auf einer Erziehungskonferenz in England, wo ich war, hätten sie mich dafür mit Sicherheit umgebracht. Ich habe herausgefunden, dass Lehren nicht natürlich ist. Ich habe sorgfältig alles erinnert und durchdacht, aber in den ganzen zweieinhalb Jahren sah ich niemals irgendwen einen anderen belehren, nicht einmal ältere Kinder zu jüngeren Kindern. Natürlich lernen die jüngeren Kinder im Zusammensein mit älteren Kindern. Aber die tun das aus eigener Initiative. Das ist absolut freiwillig. Sie werden also nicht erst gegen das Lernen konditioniert und dann trotzdem zum Lernen gezwungen. Es ist der Wille zum Lernen. Die sehen alle aus wie Wunderkinder, diese winzig kleinen nackten Babies – sie sind körperlich sowieso kleiner als wir – die die Namen von allem um sich herum kennen und wissen, wie alles funktioniert. Lehren kann das Lernen wirklich ernstlich unterbrechen. Das klingt vielleicht verrückt, wie will einer instinktiv lernen, wie man einen Fernseher repariert? Wie lernen wir lesen? Wenn Du bei Deiner Mutter auf dem Schoß sitzt, während sie Deinem Vater vorliest, und vielleicht fährt sie mit dem Finger unter dem Text entlang, so dass Du das mitkriegst, und Du hörst so viele interessante Dinge, dass Du lernen willst, zu lesen. Dann findest Du heraus, dass es noch viel mehr interessante Dinge gibt, die Du durch das Lesen erfahren kannst. Du bringst es Dir selbst bei. Natürlicher Impuls.

E: In unserem Erziehungssystem gibt es verschiedene Stufen. Da gibt es das Lernen, welches das Aufregendste ist, was wir überhaupt jemals tun –

J: Hm, vielleicht ist es das Aufregendste, was Sie jemals tun, Dr. Epstein…

E: Ich liebe es. Ich liebe auch andere Dinge, aber es ist auf meiner Liste. Besonders auf den höheren Bildungsstufen geben wir den Menschen wenig Gelegenheit zum Lernen. Wir lehren sie alles. Ich bin mit einem Professor befreundet, der sich beklagt, dass er noch nicht einmal lehren darf, sondern nur formale Lektionen abhalten. Für ihn ist das nicht Lehren. Man steht da und spricht zu einem Haufen Leute, die vielleicht zuhören, vielleicht auch nicht mal das. Wir erlauben das natürliche, aufregende Lernen nicht, sondern wir haben ein großes System geschaffen, das auf viele Arten Lernen entmutigt.

J: Sie und ich, wir sprechen jetzt als zwei Erwachsene miteinander. Nehmen wir an, Kinder hören jetzt zu, oder wer auch immer; ich hoffe, dass irgend jemand zuhört. Sie stellen mir Fragen, an denen Sie interessiert sind, und ich erzähle, weil ich will, dass Sie das alles wissen, „schauen Sie mal, das ist mir passiert“ und Sie sagen „ja, wirklich?“ usw., wir unterhalten uns. Wer immer zuhört, lernt vielleicht etwas. Aber wir lehren nicht. Es ist freiwillig. Wenn jemand zuhört, dann aus Interesse.

E: Wir interagieren –

J: Und andere Menschen beobachten das.

E: Eine ähnliche Interaktion findet statt bei einigen neuen Lernwerkzeugen auf dem Computer. Ich glaube, da ist etwas Hoffnung –

J: Ja, die wollte ich auch erwähnen! Die Idee, dass niemand Sie beurteilt oder Ihnen Ihr Tempo vorgibt. Sie lernen nur das, was Sie selbst wollen. Vielleicht gibt es Vorgaben wie, lernen Sie das zuerst und das danach, aber Sie können dem auch einen Tritt in die Zähne verpassen oder es einfach vergessen.

E: Mein zweijähriger Sohn verbringt mehrere Stunden täglich am Computer. Nicht, weil jemand ihn dazu zwingt. Es ist einfach faszinierend, ihm zuzusehen. Er lernt stetig durch diese selbstgesteuerte Interaktion. Er macht Sachen am Computer, die ich nicht mal kann, und das auf eine sehr fließende Art. So zieht er Vergnügen aus seinem Tag, das ist sehr bemerkenswert, und natürlich findet Lehren da nicht statt.

J: Er geht für das, was er will. Er sieht etwas, das ihn interessiert. Das einzige, was mir etwas Angst macht, ist die Strahlung. Die Menschen scheinen dem nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Ich habe keinen Computer; ich hatte in paar und musste sie weggeben, weil ich davon Kopfschmerzen kriegte. Ich glaube auch, dass Kinder zu oft zu nah vor dem Fernseher sitzen, aus dem eine Menge Strahlung dringt. Als wir ein Ökologisches Magazin in England starteten, sagten einige Experten, man solle nicht näher als 1,80 Meter an einen Schwarzweiß-Fernseher herangehen, der noch perfekt funktioniert, und nicht näher als 2,70 Meter an einen perfekt eingestellten Farbfernseher. Sobald daran allerdings etwas nicht ganz stimmt, kann da sogar mehr Strahlung herauskommen.

E: Er hat einen Laptop mit LCD-Bildschirm; die strahlen nicht.

J: Ja, so einen habe ich jetzt auch.

E: Inzwischen gibt es ja wohl eine richtige Bewegung um Ihre Arbeit. Was hat es mit dem Netzwerk und mit der Internetseite auf sich?

J: Da hat sich ein Netzwerk formiert, Dr. Epstein. Leute in Holland hat mit einer Internetseite begonnen, weil die das Gefühl hatten, das sei das Wichtigste, was sie der Welt mitteilen wollten. Dann begann jemand in Berkeley, Kalifornien, und noch jemand in Oregon, Scott & Noel, Mitglieder des Netzwerkes; wir hatten eine Zeitung, aber das hörte irgendwann auf. Anstatt der Zeitung haben wir jetzt die Website von Scott & Noel als eine Art Zentralinfo, continuum-concept.org, die Endung „org“, weil wir non-profit-Status haben, also steuerfrei sind vom Bund und vom Staat Kalifornien, weil wir versuchen, die Welt vor sich selbst zu retten oder so.

E: Jean, ich danke Ihnen. Unsere Zeit geht leider zu Ende, aber ich empfehle nochmals nachdrücklich dieses Buch. Ich habe es vor Jahren selbst gekauft, selbst bezahlt (als Redakteur erhält Dr. Epstein viele Bücher umsonst; wenn er ein Buch selbst kauft, ist das Ausdruck besonderer Wertschätzung, Anm. d. Üb.)-

J: Wow, dann habe ich 2 Cents Tantiemen davon erhalten!

E: Es freut mich, dass ich Ihnen da geholfen habe. Herzlichen Dank für Ihre Teilnahme!


Synchronübersetzung von Alexander Meneikis An dieser Stelle ein ganz besonderes Dankeschön an Alexander!!!