Synchronübersetzung des ersten Bali Videos von Jean Liedloff

Der menschlichen Natur erlauben, erfolgreich zu wirken

Auseinandersetzungsfreie Kinderpflege in Bali

#1: Ayu, Putu und Made

Vorbemerkung: Der deutsche Text ist kürzer als der englische Originaltext. Jean wiederholt ihre Äußerungen häufig, paraphrasiert sie. Ich habe sie jeweils nur einmal übersetzt. Die Übersetzung ist nicht wörtlich, weil direkte Übersetzungen Englisch-Deutsch oft holperig klingen, sondern sie ist sinngemäß. Längere Sprechpausen sind durch Absätze gekennzeichnet.

Das ist Ayu, fünf Jahre alt, mit ihrer Mutter Putu, die mit einem anderen Baby hochschwanger ist. Putu hat pro Tag zehn Stunden gekocht, von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends, sieben Tage die Woche. Sie spricht mit ihrer kleinen Tochter, und sie unterhalten sich über das Schreiben. Was interessant zu sehen ist, obwohl die Szene im ersten Moment nicht sehr besonders aussieht, ist, dass es keinerlei Auseinandersetzung zwischen den beiden gibt, zu keinem Zeitpunkt. Es gibt keinerlei Zwang hier, nur Kooperation, sowie eine Haltung von Respekt zwischen Mutter und Tochter, die wir im Westen einfach nicht kennen. Das kleine Mädchen ist motiviert, zu schreiben, sie wird nicht gezwungen, und die Mutter hilft ihr.

Es gibt keinen Kampf um die Kontrolle, keinen Streit der verschiedenen Willen, wie wir ihn oft haben. Was ich mit der Kamera gemacht habe, um die Beschaffenheit des Lebens dieses kleinen Mädchens einzufangen, ist, die Kamera einzuschalten und sie einfach laufen zu lassen, um Ayus Leben in Echtzeit zu beobachten. So könnt Ihr sehen, das Material ist nicht zusammengeschnitten, um es heiter aussehen zu lassen, es ist einfach, wie es ist.

Eine grundlegende Annahme der meisten Lehrer in unserer Gesellschaft ist: „Nun, Du wirst es nicht mögen, aber wir werden Dich schon dazu bringen, dass Du es tust!“ Hier dagegen, sehr subtil, aber ich finde, es ist trotzdem sehr klar, gibt es diese Einstellung nicht. Die Grundidee ist, dass Putu ihrer Tochter einfach nur die Informationen übermittelt, die sie benötigt, um Schreiben zu lernen. Niemand vermittelt Ayu, dass sie schreiben muss, ob sie es mag oder nicht. Diesem liegt wiederum eine andere Annahme zugrunde, nämlich dass ein Kind von Geburt an sozial ist, von Natur aus, dass es kein unartiges Kind ist, das erst dahin gebracht werden muss, sozial zu sein, dahin gebracht, gut zu sein. Die Annahme ist, dass das Kind von Anfang an „gut“ ist, und das ist der wesentliche Unterschied zwischen unserer Herangehensweise und dem Ansatz der Menschen hier, das Verhalten gegenüber der Natur, wie sie sich in einem Kind ausdrückt.

Ich finde es auch ungewöhnlich, ein Kind zu sehen mit einem solch tiefen Vertrauen in die Unterstützung seiner Mutter, in ihre Präsenz und ihre Partnerschaft, die keine Bedingungen stellt. Ayu zappelt nicht herum, versucht ihrer Mutter etwas zu beweisen oder versucht herauszufinden, mit wieviel sie davonkommt, oder all diese Verhaltensweisen, an die wir so gewöhnt sind. Man könnte sagen, dass die Erwartungen auf beiden Seiten absolut vertrauensvoll sind; die Mutter erwartet vom Kind, dass es das Richtige tun will. Und das Kind erwartet, dass die Mutter von ihm erwartet, das Richtige zu wollen. Das Richtigsein des Kindes steht nie in Frage, anders als bei uns, wo Autoritätsfiguren unser Richtigsein ständig in Frage stellen.

Hier haben wir Ayus Vater. Wir befinden uns in dem Restaurant, in dem Putu kocht. Es nennt sich der „Nachtmarkt“ in Ubud. Made, der Vater, nimmt die Bestellungen der Touristen auf, die an diesen langen Tischen sitzen, und bringt sie zu Putu, die das Essen in Wolken von Dampf und Feuer zubereitet. Made bringt dann die Teller an die Tische. Ayu sitzt auf einer der hölzernen Bänke, und wenn Made zwischen seinen Arbeitsgängen ist, was die meiste Zeit der Fall ist, dann leistet er ihr Gesellschaft. Als ich die beiden das erste Mal sah, war ich beeindruckt von der Art ihrer Beziehung, vor allem davon, dass sie außerordentlich viel Blickkontakt hatten, was wir glaube ich mit Kindern in diesem Alter sehr wenig haben; besonders Männern ist das eher peinlich. Aber Made ist entspannt bei sich selbst, sie ist entspannt bei sich, er ist entspannt mit ihr, und sie ist daher auch entspannt mit ihm. Beide wirken sehr zentriert, wenn ich mal diese Art Jargon benutze. Sie verlassen sich aufeinander, sie kämpfen nicht darum, dem anderen etwas zu beweisen. Wenn sie also über etwas reden, dann reden sie wirklich darüber, ohne Sorge darüber, was der andere wohl denken mag, ob sie „richtig“ wirken oder akzeptabel sind.

Auch wenn Ayu erst fünf ist, sie bleibt bis zehn Uhr abends dort, jeden Abend, denn das ist das, was ihre Familie tut, sieben Tage die Woche. Das ist Teil ihres Lebens, auch wenn wir vielleicht denken, dass es unpassend ist, eine Fünfjährige jede Nacht so lange an einem solchen Ort aufbleiben zu lassen. Es ist draußen, obwohl ein Teil des Platzes mit Plastikplanen überdacht ist. Sie verbringen ihre Zeit auf diese Weise, also kann man sicher sagen, dass Ayu sich sehr erkannt und anerkannt fühlt, anders als viele Kinder im Westen, die viele Jahre mit ihren Eltern verbringen, die ihre Kinder vielleicht gar nicht wirklich kennenlernen wollen, sondern viel mehr wollen, dass die Kinder so sind, wie die Eltern sie haben wollen, wie Papi oder Mami sie haben will, anstatt dass die Eltern erforschen, wer ihre Kinder sind. Ich denke, Ayu hat keinen Zweifel, dass sie willkommen ist, wie sie ist, und dass ihr Vater einfach wissen will, wer sie ist, dass er daran interessiert ist, wer sie ist, nicht daran, dass sie so wird, wie er es haben will.

Ich fand es so interessant, der Familie zuzuschauen, ihrem Ausdruck und der Art ihrer Beziehungen, dass ich Made fragte, ob ich am nächsten Morgen kommen könnte und sie weiter dort beobachten, wo sie wohnen. Dies ist eine Art Pension, wo Made arbeitet. Hier sehen wir Reisfelder. Es ist in der Gegend von Ubud. Ayu und ihre Mutter kommen gerade an. Es ist eines der Häuser, wo nur die Küche Wände hat, wo die Touristen, die dort wohnen, Frühstück bekommen können usw.

Hier geschieht ein bisschen mehr Morgenpflege während des Frühstücks.

Ihr Vater kommt aus der Küche. Er bringt Frühstück für Mutter und Tochter.

Das Frühstück ist jetzt wohl beendet, und es ist Zeit für Putus Unterrichtsstunde mit Ayu, denn Ayu soll Lesen und Schreiben lernen. Offensichtlich geht sie gern an diese Aufgabe heran.

Auch hier geht die Initiative hauptsächlich vom Kind aus. Beide legen die Annahme zugrunde, dass Ayu lernen will und dass Putu sie lediglich mit den Daten versorgt, die dieses Kind benötigt, um zu tun, was sie tun möchte.

Die Vertrautheit, die die beiden miteinander haben, ist auch bemerkenswert. Nun, sie wäre bei uns im Westen bemerkenswert; auf Bali ist sie das nicht. Wenn etwas Falsches auf der Seite stand, Putu radierte es aus und Ayu wischte die Fusseln des Radiergummis vom Papier, das war fast, als ob sie beide eine Person wären, nur mit vier Händen. Wenn Ayu einen Bissen von ihrem Pfannkuchen wollte, dann gab Putu ihr einen, nahm sich selbst einen, und die beiden waren so vertraut miteinander, fast wie ein einziges Wesen. So etwas habe ich bei den meisten Eltern und Kindern auf Bali beobachtet.

Diese Harmonie bleibt die ganze Zeit konstant. Wir könnten einige Momente herauspicken, denn jeder hat Momente von Harmonie. Die beiden erreichen gemeinsam etwas. Putu hat ihr Frühstück, macht Ayus Haare zurecht und gibt ihr Unterricht. Mit Made ist das nicht so sehr der Fall, er hat mit seiner Tochter nichts zu erreichen. Aber auch er hat kein Verlangen, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Putu bekommt alles erledigt, was zu erledigen ist, und trotzdem gibt es keine Auseinandersetzung, keinen Kampf der Willen. Ich finde es wichtig zu sehen, dass Ayus Beziehungen zu Vater und Mutter unterschiedlich sind, aber in jedem Fall ohne Auseinandersetzung. Und die Dinge werden erledigt, wenn die Grundannahme ist, dass das Kind ein geborenes soziales Wesen ist, das nicht erst lernen muss, gut zu sein, weil man davon ausgeht, dass es gut ist. Ayu fühlt sich geborgen mit dieser Annahme, und weil sie ein geborenes soziales Wesen ist, fährt sie einfach fort, es zu sein.

Was das Lernen betrifft, so kann man hier wohl sehen, je mehr ein Kind sich zuhause und angenommen fühlt, desto besser kann es sich konzentrieren. Ayu hat ihre Aufmerksamkeit auf dem Lernen, weil sie sich keine Sorgen darum macht, ihre Mutter zum Bleiben zu bewegen, von ihr wegzukommen, irgendetwas zu beweisen, die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu bekommen. Sie weiß, dass sie auf die beiden zählen kann, daher ist sie frei, ihre Aufmerksamkeit völlig dem zu widmen, was sie gerade tut.

Putu ist weggegangen, und Ayu und Made verbringen etwas Zeit zusammen. Es gibt nichts Besonderes zu tun, und so sind die beiden einfach zusammen, wie am Abend davor und wie jeden Abend.

In manchen Momenten, wenn Ayu und Made zusammen sind, sieht es so aus, als wären sie kurz vor einem Konflikt in westlicher Art, zu aggressiv spielend, in einem Wutanfall, Grenzen überschreitend. Aber immer waren sie sich letztlich doch einig, und der Erwachsene zwang niemals dem Kind seinen Willen auf. Gegenseitiger Respekt blieb stets präsent, auch während der raueren Spiele. Nichts entlud sich jemals in Mangel oder Verlust von Kontrolle. Offensichtlich gibt es viel Ausgelassenheit, viel Spiel und Lachen, viele Geschichten und Neuigkeiten auszutauschen, die für beide interessant sind. Auch wenn es heftiger wurde, blieb allen Beteiligten stets ihre Würde. Es gibt hier wenig von dem,. was wir „Disziplin“ nennen. Ayu wird nicht angehalten, korrekt zu sitzen, besonders leise zu sein. Sie ist sehr frei, alle Launen auszudrücken und alle Ideen, die ihr in den Sinn kommen. Und Made erwartet nicht von seiner Tochter, gegen die Regeln zu verstoßen oder Dinge zu tun, die er stoppen muss und bei denen er mit dem Fuß aufstampfen muss. Immer gibt es einen Weg, beisammen zu sein, ohne den Respekt zu verlieren.

Eine Frau, die diesen Film von Ayu und Made in Sausalito gesehen hatte und nach Palo Alto nach hause fuhr, erzählte mir etwas. Sie ist Psychotherapeutin und lehrt über die korrekte Eltern-Kind-Beziehung, ohne jemals eine gesehen zu haben. Sie fühlte, wonach sie sich immer bei ihren eigenen Eltern gesehnt hatte. Zwischendurch hatte sie oft gezweifelt, ob es diese Art Beziehung überhaupt wirklich gab. Vielleicht lehrte sie ihre Therapie-KlientInnen über die Theorie von etwas, das es überhaupt nicht gab. Und in diesem Film war es endlich, die Bestätigung, dass sie recht gehabt hatte damit, genau diese Beziehung zu wollen und darauf zu hoffen.

Was auffällt, genau wie am Vorabend, Made versucht nicht, seiner Tochter eine besondere Botschaft oder Lehre zu übermitteln, irgendetwas zu erreichen. Sie sind einfach zusammen. Er ist er selbst, sie ist sie selbst, und sie genießen die Gesellschaft des anderen, unterhalten sich selbst und sich gegenseitig, aber keiner der beiden verändert seine Persönlichkeit, um dem anderen zu gefallen. Er kriecht nicht auf dem Boden herum, als wäre er ein Kind, und sie versucht nicht, ihn zu kontrollieren. Jeder ist in sich zentriert, interessiert an dem, was der andere ist, ohne es verändern zu wollen. Hier herrscht nicht das Konzept, dass man einem kleinen Kind die ganze Zeit etwas beibringen müsste.

Ich glaube, damit ein Mensch sich dahingehend entwickeln kann, sich so zu verhalten, wie die Evolution es im Sinn hatte dass wir uns verhalten, braucht er vor allem, sich wertvoll und willkommen zu fühlen. Ganz klar bekommt Ayu die Botschaft, dass sie wertvoll und willkommen ist. Nicht unter Bedingungen, sondern bedingungslos, nur deshalb, weil sie ist und wie sie ist. Sie muss nichts beweisen.

Das ist wahrscheinlich gemeint mit dem tiefen Gefühl, wertvoll und willkommen zu sein.

Bemerkenswert finde ich auch, dass Made in keinem Moment ein „Falsches Gesicht“ aufsetzt. Viele Erwachsene fühlen sich unwohl mit Kindern und haben ein spezielles falsches Gesicht, das sie in Situationen mit Kindern aufsetzen. Sie schauen zum Beispiel sehr ernst oder bemühen sind, besonders spontan oder natürlich zu wirken. Viele haben ein „für Kinder aufsetzen“-Gesicht. Made benutzt wohl Gesichtsausdrücke, um die Geschichten zu untermalen, die er erzählt, aber er bleibt er selbst und bemüht sich nicht, etwas zu beweisen oder eine Vater-Rolle für sich zu definieren. Er ist, wie er immer ist, und fühlt sich so recht wohl. Auch Ayu scheint keine Notwendigkeit zu verspüren, in irgendwelche Extreme zu verfallen, besonders laut zu lachen, zu schmollen, Radau zu machen, weil sie keine Karikatur ihrer Gefühle und Emotionen vorführen muss, um Aufmerksamkeit zu kriegen oder etwas durchzusetzen, weil sie einfach so anerkannt wird und keine Show für irgendwen abziehen muss, denn zum einen hat sie bereits viel Aufmerksamkeit, zum anderen braucht sie diese nicht so sehr. Wenn ihr Vater da ist, kann sie auch losziehen und etwas anderes tun; wir sehen das noch später auf diesem Band. Ayus leisere und subtilere Gefühle sind deutlich zu erkennen; man sieht förmlich die Gedanken auf ihrem Gesicht, während sie reflektiert, was vor sich geht.

Ich finde eine interessante Übung, uns vorzustellen, wie wir uns fühlen würden, wenn unsere Eltern uns täglich so angeschaut hätten wie Ayu angeschaut wird, wenn sie auf diese Art mit uns gesprochen hätten, wie grundsätzlich anders wir uns über unser ganzes Leben fühlen würden.

Wäre unsere tägliche Erfahrung so gewesen wie Ayus, würden wir uns anders fühlen, und viele Psychotherapeuten wären arbeitslos. Viele Drogenhändler wären dann wohl auch arbeitslos, sowie Waffengeschäfte und Gefängnisse. Wir Menschen glauben an die Autorität unserer Eltern. Hier auf Bali gibt es ein Vertrauen in unsere menschliche Natur, die die Menschen hier haben und die wir auch genau so haben. Die Balinesen wissen, dass sie funktioniert, und wir glauben nicht daran. Die grundlegende Auseinandersetzung in unserer Kindeserziehung gibt den Kindern das Gefühl, falsch zu sein, laut unserer Autorität, und dann wollen sie bösartig sein – wenigstens überzeugen wir sie davon, dass sie bösartig sein wollen und dass wir sie stoppen wollen. Die Spielregeln werden also von uns aufgestellt. Wir überzeugen das Kind davon, dass es selbstsüchtig ist, destruktiv, schmutzig und eine Belastung für uns usw. Dann sagen wir: „Sei gut“, natürlich mit der Bedeutung „Tue so, als ob Du gut wärest.“ Und die lebenslange Grundanschauung ist ziemlich sicher etabliert. Dass ich schlecht bin, aber gelernt habe, so zu tun, als wäre ich gut. Das ist eine ziemlich gefährliche Einstellung, die zu einer antisozialen Gesellschaft führt, zu all den Neurosen und den überquellenden Gefängnissen, die wir haben. Ironischerweise sind wir so sozial, dass wir uns den Erwartungen unserer Eltern anpassen und uns antisozial verhalten. Die Angst die wir haben, ein Kind „zu weit gehen zu lassen“, kann man als falsch erkennen, wenn man sieht, was geschieht, wenn man ein Kind „zu weit“ gehen lässt. Ein Kind, dass noch keine vorgeprägten Erwartungen darüber hat, dass es unartig sein wird oder dass es die Situation ausnutzen wird. Man sieht das bei jedem balinesischen Kind, oder auch bei Yequana- oder Sanema-Kinder, allen Kindern, die nicht die Vorteile einer westlichen Erziehung genossen haben: Kinder sind selbstregulierend. Sie sind tief soziale Wesen, und man kann darauf zählen, dass sie so sind. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir glauben, wir müssen einem Kind beibringen, Tischmanieren zu haben, sich zu benehmen, sozial zu sein, nett zu sein. zu tun, was man tut, zu lernen, was immer man lernen soll. Wir vertrauen nicht darauf, dass sie lernen wollen, und gerade das ist der stärkste Impuls in einem Kind. Sie lernen die ganze Zeit wie verrückt, zumindest, bis wir sie dabei unterbrechen und in die Schule schicken, wo wir ihnen sagen, dass sie still am Tisch sitzen sollen und ihnen erklären, dass „A“ für „Apfel“ steht usw. Das stimmt ja nicht mal, aber wir sagen ihnen, „A“ steht für „Apfel“, und sie glauben es. Während sie da sitzen, mit gefalteten Händen und man ihnen sagt, sie sollen nicht mit ihren Nachbarn reden oder mit den Füßen scharren, hören sie auf mit ihrer eigenen, viel effizienteren Form des Lernens, ganz spontan aus ihrer eigenen profunden Motivation zu lernen, zu imitieren und uns zu helfen.

Ein Fehler, den wir im Westen machen, ist zu glauben, wenn wir ein Kind wegschieben, es etwa allein schlafen lassen, es viel Zeit am Tag allein verbringen lassen, dann würden wir es daran gewöhnen, unabhängig zu sein, unabhängiger als wenn wir es im elterlichen Bett schlafen lassen usw. Es ist aber genau das Gegenteil der Fall. Ein Kind, welches das Gefühl bekommt, dass es immer bedingungslos willkommen ist, egal wo die Eltern gerade sind, dieses Kind kann von seinem bedingungslosen Willkommensein überzeugt sein. Dieses Kind kann sich später sicher fühlen, nach außen zu gehen, im Laufe seiner ganz natürlichen Entwicklung. Dieses Kind wird nicht fürchten, dass die Heimatbasis verschwindet, sobald es sich umdreht. Also bekommt man genau den umgekehrten Effekt. Je mehr ein Kind sich mit den Eltern willkommen fühlt, desto freier wird es, sich seiner eigenen Unabhängigkeit sicher zu werden, und es muss nicht ständig zurückschauen auf das, was es zuerst brauchte, was eben dieses Gefühl ist, bedingungslos willkommen, erwünscht und richtig in der Heimatbasis zu sein.

Ein weiterer Unterschied, der mir in Bali auffiel, wenigstens zu dort wo ich in Amerika lebe, ist, dass es bei uns weniger Kinder oder Heranwachsende gibt, die sagen, dass sie genau so sein wollen wie ihre Eltern. Ich glaube allerdings, es liegt in unserer Natur, dass wir sein wollen wie unsere Eltern und uns diesen Wunsch erlauben wollen. Ich glaube, wir alle fühlen uns auf einer gewissen Ebene betrogen und wütend, dass wir uns diesen Wunsch nicht erlauben, auch wenn wir es nicht zugeben. Ich denke, wir wünschen uns, dass unsere Eltern Menschen sind, denen wie gerne nacheifern wollen. Wenn sie aber Menschen sind, für die wir nur Verachtung übrig haben wegen ihrer Werte oder wegen der Art, wie sie Kinder behandeln, vor allem uns, dann wollen wir kein bisschen sein wie sie, und wir fühlen uns betrogen, wir empfinden, dass es falsch ist. Und ich denke, es ist auch falsch. Ich glaube, auf Bali wären die meisten Kinder gerne wie ihre Eltern. Ganz sicher bei den Indianern, die ich im südamerikanischen Dschungel getroffen habe; sie verspürten nicht den Drang, von ihren Eltern wegzuziehen; vielmehr neigten die Familien dazu, mit allen Generationen zusammen zu ziehen.

Bei Ayu sieht man genau, welche Laune sie gerade hat. Manchmal sieht sie aus, als würde sie gleich weinen, aber sie tut es nicht. Manchmal schaut sie etwas kokett drein, und dann sieht sie wieder nachdenklich aus. Manchmal sieht sie traurig und schmollig aus. Niemand sagt dazu so etwas wie „Sei nicht traurig“, „Weine nicht“, „fühle nicht dies oder jenes“. Ihre Emotionen fließen einfach frei, wie sie bei einer Fünfjährigen sind, sie kommen und gehen mit ihren Gedanken, und keine davon sind abfällig zu bewerten. Alle Gefühle sind erlaubt, und ihre Eltern haben keine Angst davor; sie glauben nicht, dass ihr Kind jetzt plötzlich schlecht wird und gestoppt oder diszipliniert werden muss. Sie erwarten, dass sie sozial ist, was sie auch ist. Was immer ihre Gedanken, Emotionen und Ideen sind, die Eltern sind an ihnen interessiert und akzeptieren sie als richtig. Sie hat nicht einige richtige Gefühle und einige falsche Gefühle – ein Konzept, in das wir so stark indoktriniert sind, dass einige unserer Wünsche, Gedanken und Motivationen schlecht sind, und manche davon gut. Wir können uns in unserer Haut nicht zuhause fühlen. Wir können uns nicht trauen, weil wir lernen, dass unsere Eltern uns nicht trauen. Und sie sind Autoritäten.

Es ist schön, dass Ayu all ihre Kunststücke vollführt, ohne ins Gesicht ihres Vaters zu sehen und zu überprüfen, ob er sie gut findet oder nicht. Sie fragt nicht, ob sie es gut macht oder sucht nach Anerkennung oder Zustimmung, weil sie weiß, dass sie Zustimmung von Anfang an hat, die ganze Zeit. Das gibt ihren Handlungen Freiheit und erspart ihr, zu stocken und sich zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Sie kann ihren Emotionen trauen, was ihr offensichtlich Grazie verleiht und größere Freiheit, zu handeln. Das Vertrauen, das sie von ihren Eltern spürt, hinsichtlich ihrer gesamten Entwicklung, alle Gefühle, die sie von ihren Eltern spürt, werden das, was sie schließlich über sich selbst fühlt. Und, unglücklicherweise ist es für uns genau so, denn was unsere Eltern über uns fühlen, werden schließlich unsere eigenen Gefühle über uns. Wir fühlen uns nicht sicher, wir trauen unseren eigenen Motiven nicht, wir hinterfragen ständig unsere Handlungen, wir handeln nicht frei fließend, wir fragen uns ständig und sorgen uns usw. Ein soziales Wesen zu sein, bedeutet, die eigenen Werte von den Älteren zu übernehmen, von den Stammesälteren. Sie bekommen ihre Werte von ihren Älteren, wir bekommen unsere von unseren. Die Balinesen bekommen viele positive Werte, und wir bekommen viele negative, die dann Teil unserer selbstzweifelnden Persönlichkeit werden. Das füllt die Gefängnisse und sorgt dafür, dass es ziemlich gefährlich ist, nachts herumzulaufen. Natürlich sind Menschen, die sich selbst nicht trauen, auch nicht sehr vertrauenswürdig; das macht das Leben in der Gesellschaft sehr schwierig. Ich frage mich in der Tat, ob wir uns noch als soziale Wesen bezeichnen können, so neurotisch wie wir uns in unserer Gesellschaft verhalten. Auch wenn wir im Sinne der Evolution als soziale Wesen gedacht sind, und wenn wir so sein könnten wie die Balinesen oder die Yequana, die Art, wie wir uns verhalten, ist nicht so sozial, oder? Mit all den Schlössern an den Türen. All der Hass, gar nicht zu reden von den vielen Scheidungen, von den vielen Konflikten zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Kindern untereinander, zwischen den Eltern selbst, mit jedem, mit dem wir unseren Selbsthass ausagieren können.

Es sieht so leicht aus, wenn wir den Balinesen zuschauen, so gänzlich vertrauensvoll zu sein. Aber natürlich beginnt das mit dem totalen Vertrauen im Schoße der Eltern. So zu werden ist also nicht so leicht, wie es vielleicht aussieht. Was wir tun müssen, ist irgendwie unseren kulturell verursachten Zweifel zu verbannen, der so ziemlich überall ist, nicht nur in Deinen Eltern, auch in Deinen Großeltern und deren Großeltern; in unserer Kultur orientieren wir uns an einem grundlegenden Misstrauen in die menschliche Natur. Um zu diesen – ich hätte fast gesagt, „glückseligen“ – aber in Wirklichkeit sind es einfach „korrekte“, wahre menschliche Beziehungen, die wir hier sehen, um dorthin zu gelangen, müssen wir eine grundlegende Änderung unserer Einstellung und Philosophie vornehmen in unserem Verständnis dessen, was wir sind, nämlich zu sagen, dass wir profund sozial sind und dass wir darauf vertrauen können, dass wir so sind. Das braucht Übung. Eine Übung ist es, zu schauspielern, als ob man bereits so wäre, als ob man seinem Kind vertraute. Und mehr und mehr vertraust Du Deinem neuen Verhalten und erlaubst Deinem täglichen Verhalten, mehr und mehr davon durchdrungen zu werden.

Viele Westler, die diesem Spiel zusehen, werden vielleicht meinen, dass Ayu hier versucht, ihren Vater zu verführen oder dass hier sexuelle Komponenten enthalten sind. Das ist eine typische Assoziation für uns, denn in unserer Gesellschaft gibt es derartig viel Frustration und Dysfunktion, dass wir das Auftauchen solcher Momente fürchten. Die Balinesen fürchten das nicht. Pädophilie kommt vor allem von einem Gefühl der Machtlosigkeit des Erwachsenen gegenüber anderen Erwachsenen. Manche Erwachsenen fühlen sich nur mächtig in Gegenwart von Kindern. Da diese Menschen mit einem Gefühl vollen Selbstvertrauens aufgewachsen sind, haben sie keine Angst vor dem Auftauchen solcher Momente; sie können sich erlauben, eine viel weitere Bandbreite an Erfahrungen zuzulassen. Auch haben sie keine Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Wir haben oft Angst, homosexuell zu erscheinen, wenn wir besonders herzlich mit einem gleichgeschlechtlichen Menschen sind, oder Angst davor, von einem Kind vielleicht erotisch angezogen zu werden, da wir unserer selbst so unsicher sind. Aber wenn man sich wirklich zuhause in sich fühlt, dann hast Du keine Angst vor dunklen Schatten in Dir selbst.

Wir sehen eine kleine Person namens Ayu, deren Entwicklung als Homo Sapiens nicht von einem Haufen neurotischer Irrtümer über die menschliche Natur behindert wird. Sie ist, was wir alle sind, und das ganz frei. Beziehungsweise, wir sind es meist nicht, wegen all unserer Ängste und Zweifel usw. Ich finde es einfach, sich vorzustellen, was die fünfjährige Ayu wohl für eine glückliche, leichte, selbstvertrauende Erwachsene sein wird, und was für eine Mutter sie wahrscheinlich sein wird. Selbst wir Neurotiker können uns das wohl vorstellen.

Und man kann sich auch vorstellen, wie wahrscheinlich es für Ayu sein wird, in schlechte Beziehungen mit Männern zu geraten, wenn man sieht, wo der Grundstein für ihr Vertrauen Männern gegenüber gelegt wurde. Es werden glückliche Beziehungen sein, sie wird von Männern gute Dinge erwarten und ihnen vertrauen, und wenn sie in Bali bleibt, wird ihr Vertrauen wahrscheinlich gerechtfertigt werden. Man kann sich auch eine Menge anderer Dinge vorstellen, in die sie wahrscheinlich nicht verwickelt wird: Es ist unwahrscheinlich, dass sie Zuflucht in Süchten irgendwelcher Art suchen wird, seien es Narkotika, Halluzinogene, Essen, Tabak, Alkohol, weil ihr normaler alltäglicher Bewusstseinszustand ein ausgeglichener sein wird, nicht etwas, vor dem sie Ruhe sucht.

Hier spielt sie Arbeiten, wie die Yequana-Kinder. von denen ich in meinem Buch berichtet habe, sie tut, was sie ihre Mutter oder andere hat tun sehen, nämlich saubermachen, auch wenn sie die Kehrichtschaufel hier wie einen Besen benutzt. Das Konzept von Arbeit ist etwas, dem sie sich freiwillig ganz natürlich anschließen würde, nicht etwas, das man ihr aufzwingt, ob sie es will oder nicht, was sie wieder in einen Konflikt stürzen würde, vielleicht für ihr gesamtes Arbeitsleben. Viele von uns glauben vielleicht, dass niemand arbeiten würde, der nicht muss, aber das ist nicht wahr. Es ist ganz natürlich für uns, dass wir arbeiten wollen, wenn man uns erlaubt, auf diese Weise dahin zu gelangen.

Jetzt hat sie eine Libelle gefunden, und niemand wird ihr vorschreiben, wie sie damit zu verfahren hat. Sie wird den Vorgaben ihres fünf Jahre alten Geistes folgen sowie ihrer Neugier, wird sich erlauben, auf ihre eigene Art zu studieren und zu sein. In ihrem Leben hat sie nicht erfahren, dass sie die Aufmerksamkeit ihres Vaters festhalten muss und jeden Moment, den sie kann, davon absorbieren. Sie weiß, das sie willkommen ist, dass er verfügbar und zugänglich ist; sie kann sich umdrehen und hinaus in die Welt gehen, sich umschauen, durch die Büsche streifen, und wissen, dass er da ist, wenn sie bereit ist, zurückzukehren, ob er gerade arbeitet oder isst oder schläft, er ist da und er ist zugänglich und sie ist nicht ausgeschlossen, so dass jeder Krumen seiner Aufmerksamkeit festgehalten, herumgedreht und ausgequetscht werden müsste, so wie viele Kinder bei uns über ihre Väter fühlen, und auch über ihre Mütter.

Ich weiß nicht, wie Ayu mit der „Gesellschaft gegen Grausamkeit an Libellen“ zurechtkommen würde, aber generell kann man doch sehen, dass Menschen, die in sich selbst zuhause sind, auch dem Rest der Natur gegenüber sehr respektvoll sind, anderen Tieren und Pflanzen gegenüber, der Umwelt allgemein. Zumindest gilt das für Menschen, die ich getroffen habe, die kontinuierlich im Kontinuum waren, im Einklang mit den evolutionären Erwartungen und Entwicklungstendenzen unserer Spezies. Diejenigen, die mit Vertrauen behandelt wurden, in ihrem Vertrauen in sich selbst und in ihre Mitmenschen, haben auch eine Fürsorge für die Umwelt, die durch unser neurotisches Verhalten so gefährdet ist. Ihr Blick auf die Welt ist sehr naturliebend und kann in allen Menschen beobachtet werden, die nicht Teil unserer Gesellschaft sind.

Was wir schließen können, wenn wir dieses kleine Mädchen anschauen und bedenken, dass sie wir ist und wir sie sind, ist, dass wir doch eine weit bessere Spezies sind als wir glauben. Demnach gibt es auch viel mehr Hoffnung, als wir uns vielleicht erlauben mögen. Es geht nur darum, die Botschaft wirklich zu verstehen: Wir sind eine Spezies, die funktioniert. Wir sind tief sozial, und wir können darein vertrauen. Ich glaube, es geht nicht zu weit, zu sagen, dass wir wirklich neu definieren müssen, was Kindesmissbrauch ist. Ich denke, wenn wir unsere wahre Natur besser verstehen, dann werden wir sehen, dass der Missbrauch unserer Autorität gegenüber Kindern nicht nur ist, sie zu schlagen, sie verhungern zu lassen usw., sondern auch, ihnen die Dinge zu verweigern, die sie brauchen, die sie all die hunderte und tausende von Jahren gebraucht haben, wenn wir ihnen nicht in unserem Verhalten und unserer Einstellung zeigen, dass sie genau richtig sind, dass sie sind, was wir erwarten, was wir wollen, dass sie wertvoll sind und willkommen in der Welt, 100% willkommen, dann missbrauchen wir sie, und wir missbrauchen uns selbst. Unsere Gesellschaft besteht dann aus antisozialen und daher gefährlichen Individuen – und so bekommen wir, was wir schon haben. Also denke ich, sollten wir die Anstrengung unternehmen, herauszufinden und zu verstehen, was für eine Spezies wir sind, welche Art Tier wir sind. Was wir bisher geglaubt haben war, dass wir sündhafte Kreaturen sind. Jede Tierart, die bis heute überlebt hat, könnte auf natürliche Weise sündhaft sein. Wenn man darüber nachdenkt, erscheint das unmöglich. Wir brauchen eine wissenschaftliche, akkurate Sichtweise von dem, was wir sind, keine romantisierende Sichtweise oder so etwas wie „der Mensch ist göttlich“. Was wir ganz sicher nicht brauchen, ist die Einstellung „der Mensch ist auf natürliche Weise sündhaft“ oder sowas. Ich denke, wir haben noch eine Chance, es ist noch nicht zu spät.


Synchronübersetzung von Alexander Meneikis

An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Alexander!!!